Festivalbericht von Geri Krebs über das Visions Du Réel 2009 in Nyon
Der Hauptpreis für einen knochentrockenen, überlangen Politfilm, der Abräumer ein berührendes Porträt einer 86-jährigen Frau. Auf diese Kürzestformel gebracht, ging am 29.4. in Nyon ein rundum gelungenes Festival zu Ende, das mit rund 30 000 Zuschauern erneut stark zulegte.
Es war einer der bewegendsten Momente von Visions du réel 2009, als an einem frühen Abend eine kleine, weisshaarige Frau, stark gebückt und von Regisseur Vadim Jendreyko gestützt, das Podium der stickigen Salle Communale betrat. Swetlana Geier (86) ist Protagonistin in Jendreykos preisgekröntem „Die Frau mit den fünf Elefanten“, und was es mit letzteren auf sich hat, eröffnete der Film erst am Schluss. Es sind die fünf grossen Romane Fijodor Dostojewskis, die aufgestapelt neben Frau Geier liegen, und die sie seit 1992 neu ins Deutsche übersetzt hat, nachdem sie bereits im Teenageralter in ihrer Heimatstadt Kiew Deutsch gelernt hatte. Jendreykos Film erzählt die unglaubliche Geschichte einer hoch begabten Frau, die es schaffte, Stalinismus und Naziherrschaft zu überleben, um dann 1943, mitten im 2. Weltkrieg, nach Deutschland zu übersiedeln, wo sie sich ein neues Leben als Sprachwissenschaftlerin und Vermittlerin zwischen russischer und deutscher Kultur aufbaute.
Als Migrationsgeschichte behandelt „Die Frau mit den fünf Elefanten“ ein brennendes Problem der Gegenwart, und natürlich fand dies in Nyon seinen Niederschlag in zahlreichen weiteren Filmen über Menschen, die in eine neue Existenz ausserhalb ihrer Heimat erstreben. Einer dieser Filme war „Cash and Marry“, umwerfender Erstling des in Wien lebenden Mazedoniers Georgiev Atanas, der einen Preis des Wettbewerbs der „Regards Neufs“ erhielt. „Cash and Marry“ ist eine moderne Schelmengeschichte von zwei jungen Männern aus dem Balkan, die in Wien versuchen, zu überleben. Einer der Männer ist der Filmemacher. Er will seinem Freund aus Bosnien, dessen Visum abgelaufen ist, bei der Suche nach einer österreichischen Frau für eine Scheinehe zwecks Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis behilflich sein. Während hier einer mit viel Witz die Absurditäten einer globalisierten Welt angeht, nahm sich ein Film aus dem Hauptwettbewerb akademisch streng und knochentrocken der Hintergründe des gegenwärtigen Desasters auf den Finanzmärkten an. „L'encerclement – La democratie dans les rets du neoliberalisme“ des Kanadiers Richard Brouillette erhielt schliesslich – etwas diskussionswürdig für einen Dreistünder, der fast nur mit Talking-Heads von Experten arbeitet – den Hauptpreis des Festivals. Wie die Auswirkungen jener von „L'encerclement“ angeprangerten neoliberalen Weltwirtschaftsordnung konkret aussehen, führte schliesslich „Les damnés de la mer“ eindrücklich vor Augen. Der mit dem Preis der Publikumsjury ausgezeichnete Film des Marokkaners Jawad Rhalib, zeigt zur Untätigkeit verdammte marokkanische Fischer, derweil weit draussen europäische High-Tech-Kutter die Fanggründe leer fischen – ein ungemein starkes Bild einer aus den Fugen geratenen Welt.
(Geri Krebs)
Alle GewinnerInnen des Visions Du Réel 2009
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