16. Zurich Film Festival: Jungen kam, sah und machte Kino. Von Irene Genhart / Redaktionelle Beiträge / User-Beiträge / Home / 451°F - 451°F Film-Newsletter

RUBRIKEN

KINO

UNTERSTÜTZE UNS

Damit wir das Projekt 451° Filmportal aufrecht erhalten können, sind wir auf deine Spende angewiesen. Vielen Dank!

PARTNER

16. Zurich Film Festival: Jungen kam, sah und machte Kino. Von Irene Genhart

16. Zurich Film Festival: Jungen kam, sah und machte Kino. Von Irene Genhart

Am 4. Oktober 2020 ging das 16. Zurich Film Festival zu Ende. Es war das erste unter der künstlerischen Leistung von Christian Jungen, zugleich eines der weltweiten ersten Filmfestivals, welches nach dem Covid-Lockdown im März 2020 vor Ort stattfand. Das Zürcher Publikum dankte es Jungen mit erstaunlich zahlreichem Erscheinen.

Man kann sich gut vorstellen, dass Christian Jungen in den letzten Monaten einige schlaflose Nächte durchlitt. Da dürfte sich der Journalist, im Frühjahr 2019 zum neuen Direktor des Zurich Film Festivals ernannt, am Ziel all seiner Träume gewähnt haben. Mit Respekt vor seiner neuen Aufgabe schaute er seinen Vorgängern und Festivalgründern, Karl Spoerri und Nadja Schildknecht, vorerst über die Schultern und stellte 2019 bescheiden bloss das Kinderprogramm zusammen. Mit Elke Mayer als Geschäftsführerin übernahm er dann die Festivalleitung aufs Jahr 2020 und wurde im März 2020 mitten während der Festivalvorbereitung von der Covid19 brüsk ausgebremst.

Doch derweil andere Filmfestivals – in der Schweiz etwa die Visions du réel, Bildrausch Basel und das Video-Ex Zürich – online gingen, verschoben wurden, oder – wie das Festival von Locarno – sich in hybrider Form neu zu erfinden versuchten, setzten Jungen und Mayer wagemutig aufs Kino. Stolz verkündeten sie an der Pressekonferenz vom 10. September, dass das 16. Zurich Film Festival vor Ort stattfinden werde. Selbstverständlich unter Einhaltung eines ausgeklügelten Schutzkonzepts und mit Abstrichen: Während einer Pandemie lassen sich keine langen Gästelisten erstellen und rauschende Partys und Anlässe, wie der grüne Teppich, bei denen Sponsoren, Stars und Publikum auf Tuchfühlung gehen, sind schon fast ein Tabu.

Das sind schwierige Voraussetzungen um sich als künstlerischer Direktor erstmals zu bewähren. Doch Jungen hat sich clever auf seine eigene Cinephilie besinnend das ZFF als ein Ereignis definiert, welches das Kino als Ort des kinematographischen Erlebens gross werden lässt. Und er betonte in den letzten zehn Tagen bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit, dass ins Kino zu gehen etwas anderes ist, als zuhause auf dem Sofa Filme im Streaming anzuschauen.

Auf Rund einen Drittel der Besucher des letzten Jahres hoffte Jungen im Vorfeld des Festivals. Tatsächlich gezählt hat man am 16. ZFF schliesslich rund 68‘000 Eintritte und damit mehr als die Hälfte der 2019 erreichten 117‘000. Jungen und Mayer, aber auch die Sponsoren, die dem ZFF in schwierigen Zeiten die Treue hielten, dürfte es freuen. Auch lässt dieses überraschend positive Ergebnis hoffen, dass das Kino, das in der Schweiz nach seiner Wiedereröffnung im Juni nicht richtig in Schwung kam, so ganz tot noch nicht ist.

Christian Jungen hat fürs 16. ZFF ein abwechslungsreiches, den Gout des Cinephilen verratendes Programm zusammengestellt. Auch holte er einige Stars nach Zürich wie die Französin Juliette Binoche (Golden Icon Award), Publikumsliebling Til Schweiger (Golden Eye Award), die mit dem A Tribute to… Award geehrte Maïwenn; Johnny Depp schliesslich stellte in Zürich gut aufgelegt das von ihm produzierte Band-Porträt „Crock of Gold: A Few Rounds with Shane McGowan“ vor.

Insgesamt umfasste das Programm des 16. ZFF rund 165 Filme. Es fanden sich darunter deutlich weniger Hollywood-Produktionen als in anderen Jahren, dafür eine breitere Palette europäischer Produktionen. Insgesamt verzeichnet das Festival 24 Welturaufführungen und somit doppelt so viele wie in früheren Jahren. Das ist fürs Publikum nicht unbedingt merkbar, das ZFF hat seinen Focus seit jeher auch auf die sogenannten Gala-Premieren gelegt, eine Art Best-Of-Vorschau der kommenden Kinosaison, die wie ein Publikumsmagnet wirkten. Doch die Zahl von Uraufführungen ist ausschlaggebend für den internationalen Ruf und das Ranking eines Filmfestivals und Christian Jungen versucht dem ZFF offensichtlich eine etwas andere Ausrichtung zu verpassen. Etwas mehr aufs Autoren- und Arthouse-Kino dürfte man am ZFF in Zukunft setzen, etwas weniger auf Stars und Glamour. Auch wichtig scheint Jungen die Vernetzung mit anderen Festivals, wie dem Festival von Locarno, dessen Präsident Marco Solari sich dieses Jahr am ZFF zusammen mit Jungen für die Stärkung des Kinos engagierte.

Tatsächlich präsentierte Jungen in seinem ersten Jahr als künstlerischer Leiter drei ausgewogene und solide Wettbewerbe, in denen sich einige starke Werke entdecken liessen. Zu den diesjährigen Highlights gehörten Ben Sharrokcks sensationell fotografiertes Asylsuchenden-Drama „Limbo“ ebenso wie Eliza Hittmans erschütterndes Teenie-Drama „Never Rarely Sometimes Always“, Christian Johannes Kochs stilles Migrationsdrama „Spagat“ und Pascal Hofmanns experimentell-essayistisches Künstlerporträt „NOT ME – A Journey With Not Vital“.

Als Gewinner aus den mit je 25‘000 Franken dotierten Wettbewerben hervorgegangen sind drei Werke von Frauen. Das goldene Auge des deutschsprachigen Fokus-Wettbewerbs holte die Österreicherin Evi Romen mit ihrem Homosexuellen-Drama „Hochwald“. Den internationalen Spielfilmwettbewerb gewann Fernanda Valadez mit „Sin señas particulares“, der von einer Mutter verzweifelten Suche nach ihrem im mexikanischen-amerikanischen Grenzgebiet verschwundenen Sohn erzählt. Bei den Dokumentarfilmen obenauf schwang die Langzeitstudie „Time“ der US-Amerikanerin Garrett Bradley, die das Porträt einer Frau entwirft, die seit über 20 Jahren für die Begnadigung ihres Mannes kämpft, der zusammen mit ihr eine Bank ausraubte. Der Preis der Kritikerjury ging an Hanna Schweier für den Dokumentarfilm „80‘000 Schnitzel“, er handelt von einer betagten Wirtin und deren Enkelin, die gemeinsam ihren maroden Familienbetrieb zu retten versuchen.

Es waren die ausgezeichneten Filme durchs Band bildlich stark und sie zeugten alle von harten (Über-)Lebenskämpfen. Grundsätzlich schwangen in den diesjährigen ZFF-Wettbewerben ernste Themen obenauf, selbst der als Komödie angekündigte „Limbo“, erwies sich auf Leinwand als ein im Tonfall melancholisches und im Kern tragisches Drama.

Abgerundet wurde das 16. ZFF mit diversen Nebenveranstaltungen, unter anderem einem Gespräch zwischen Rolf Lyssy und der Filmkomponistin Adina Friis über ihre Zusammenarbeit für Lyssys neuen Film „Eden für jeden“. Lyssys Komödie war einer von 27 am ZFF gezeigten Schweizer Beiträgen und von typischem Lyssy-Humor gekennzeichnet einer der heitersten. Marc Sway gibt darin sein Debüt als Schauspieler. Die grosse Entdeckung aber ist Steffi Friis, die sich als fesche Busfahrerin um ihre demenzkranke Grossmutter kümmert und dabei in munterer Quirligkeit den gemütlich eingerosteten Multi-Kulti-Kosmos eines Schrebergartens hübsch durcheinanderwirbelt.

So ist Christian Jungen und Elke Mayer der Einstand als Führungsteam des Zurich Film Festivals trotz erschwerender Umstände durchaus geglückt. Ob und wie die beiden das Zurich Film Festival durch die voraussichtlich von finanziellen Turbulenzen geprägten nächsten Monate ins nächste Jahr bringen werden, wird sich zeigen. Zu hoffen ist es. Denn wie Iris Berben es in der Rede formulierte, die sie anlässlich des ihr im geschlossenen Rahmen verliehenen Golden Eye Awards hielt, sind Kunst und Kultur – und somit auch das Kino – Mittel der Kommunikation, die gerade auch in Zeiten einer Krise Menschen verbinden. In diesem Sinne ist zu hoffen, dass das ZFF noch viele Jahre überleben wird.
Irene Genhart

Weitere Infos: https://zff.com/de/home/

Preise

Fokus Wettbewerb HOCHWALD von Evi Romen (Österreich, Belgien)
Spielfilm Wettbewerb SIN SEÑAS PARTICULARES von Fernanda Valadez (Mexiko, Spanien)
Dokumentarfilm Wettbewerb TIME von Garrett Bradley (USA)
Series CRY WOLF von Maja Jul Larsen (Dänemark)
Audience Award SAMI, JOE UND ICH von Karin Heberlein (Schweiz)
Gamechanger Award Ascot Elite
Preis der Kinderjury THE CLUB OF UGLY CHILDREN von Jonathan Elbers
(Niederlande)
Publikumspreis ZFF für Kinder LITTLE CRUMB von Diede In't Veld (Niederlanden)
Kritikerpreis 80 000 SCHNITZEL von Hannah Schweier (Deutschland)
Science Film Award I AM GRETA von Nathan Grossman (Schweden)
Filmpreis der Zürcher Kirchen SAMI, JOE UND ICH von Karin Heberlein (Schweiz)
Treatment Award FLEISCH UND BLUT von Ares Ceylan (Schweiz)
   
ZFF 72  
Jury Award HOW TO BECOME A HERO von Marty Trezzini
Mobile Filming Award BOOT_CLIP-01.MOV von Cyril Fischer
Viewers Award THE REAL HERO von Lutharsan Sivalingarajah