Vorschau auf die 50. Solothurner Filmtage 2015. Von Bettina Spoerri
Blick zurück und nach vorne
Mit der Vergangenheit die Gegenwart verstehen und Zukunft erahnen: In Solothurn könnte man dies in den kommenden Tagen erproben. Denn die Solothurner Filmtage, die am 22. Januar eröffnet werden (und bis 29. Januar dauern), präsentieren in einem 50-Jahre-Jubiläumsprogramm eine Auswahl von Filmen, welche die Schweizer Filmgeschichte geprägt haben. Neben „Höhenfeuer“ (1985) von Fredi M. Murer, der dieses Jahr an den Filmtagen auch seinen neuesten – und wie er sagt, „letzten“ – Film, „Liebe und Zufall“, präsentiert, oder „Les petites fugues“ (1979) von Yves Yersin sind dies u.a. auch „Züri brännt“ (1980), das feurige Pamphlet aus der Zürcher Jugendbewegung, oder „Siamo italiani“ (1964) von Alexander J. Seiler. In einer solchen Auswahl fehlen zwangsläufig einige wichtige Filme, andere, die weniger starken Einfluss hatten, figurieren indes im Programm, doch tut dies der grundsätzlichen Geste keinen Abbruch, den Blick auf das jetzige Schaffen durch die Aktualisierung des Gedächtnisses zu schärfen. Die Jubiläumsvorführungen sind begleitet von Gesprächen zwischen Filmautorinnen und Filmautoren unterschiedlicher Generationen.
Dieses Prinzip des Austausches zwischen Generationen von Filmschaffenden verfolgen die Filmtage dieses Jahr auch mit zahlreichen Diskussionen, Filmgesprächen und mehreren Podien rund um aktuelle Fragen und Probleme der Filmproduktion heute. Auch die Engpässe bei den Kinos und den Fördergremien, die Folgen der Digitalisierung werden von Fachleuten öffentlich diskutiert. Gleichzeitig feiern mehrere, lange erwartete neue Filme in Solothurn Premiere: Stina Werenfels‘ filmische Version von Lukas Bärfuss‘ gleichnamigem Theaterstück „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ über eine Behinderte, die ihre Sexualität entdeckt und damit ihre Eltern schockt, ist für den Prix de Soleure nominiert. Um diesen gut dotierten Preis bewerben sich u.a. auch „Driften“ des in London geborenen Filmautors Karim Patwa, der Dokumentarfilm des Basler Fotografen und Regisseurs Angelo A. Lüdin über Thomas Hirschhorns „Gramsci Monument“ in der Bronx oder der Spielfilmerstling (und Filmtage-Eröffnungsfilm) „Unter der Haut“ der ZHdK-Absolventin Claudia Lorenz über einen Familienvater, der seine Homosexualität entdeckt. Familie und Tod sind zwei thematische Fäden, die inhaltliche Schwerpunkte bilden: Der wohl jüngste Filmautor ist der 1995 geborene Jann Kessler aus Frauenfeld, der sich in seinem Dokumentarfilm „Multiple Schicksale – Vom Kampf um den eigenen Körper“ mit der MS-Erkrankung seiner Mutter auseinandersetzt. Samir begibt sich in seiner „Iraqi Odyssey“ auf die Spur seiner weit verstreuten Familie, während Lucienne Lanaz in „L’enfance retrouvée – Les petites familles“ der Frage nachgeht, wie entscheidend ein Aufwachsen in einem liebevollen Umfeld sein kann. Und Anne Gonthier erzählt in ihrem Spielfilm „Deux jours avec mon père“ von der Begegnung eines Sohnes mit seinem todkranken Vater, die Selbstverständlichkeiten aufbricht. Sterbebegleitung, die Konfrontation mit der Unausweichlichkeit des Todes, die Frage auch nach dem Sinn des Lebens werden seit einigen Jahren im Schweizer Kino insbesondere in Dokumentarfilmen immer wieder thematisiert; so begleitet Susanne Eigenheer Wyler in ihrem neuen Film „Vollenden“ ein Tiroler Thanatologen-Duo bei seiner Arbeit.
Einen weiteren Fokus setzen die Filmtage mit der Programmsektion „Frische Zellen“: Hier werden Filme gezeigt, die von vorwiegend jungen Filmschaffenden die im Kollektiv arbeiten oder sich zu Netzwerken und Produktionsfirmen zusammengeschlossen haben, gezeigt, dabei sind u.a. „8 Horses“ oder auch die österreichische Firma „coop99“ mit einem Film von Jessica Hausner. Und in der Sektion „Upcoming Talents“ werden Kurzfilme des Schweizer Nachwuchses präsentiert; mit dabei ist hier aber auch der vierminütige Film „Unghüür“ des bereits durchaus bekannten Künstlers Yves Netzhammer mit einem Song von Kutti MC (den sein Kreator Jürg Halter soeben aus der Öffentlichkeit verabschiedet hat). Unter den TV-Produktionen ist – für Deutschweizer/innen insbesondere – die Serie „A livre ouvert“ von Véronique Reymond und Stéphanie Chuat zu entdecken; die beiden gewannen mit ihrem Spielfilm „La petite chambre“ den Schweizer Filmpreis 2010, und Véronique Reymond wurde eben auch in der Kategorie der besten weiblichen Darstellerin mit einem Fernsehfilmpreis ausgezeichnet.
Wer neuere Schweizer Filme in den Kinos verpasst hat – mittlerweile sind es so viele, dass dies selbst Film-Aficionadas passiert –, kann sie in Solothurn in der Werkschau ‚nachschauen‘, so z.B. „Schweizer Helden“ von Peter Luisi, „Dark Star – HR Gigers Welt“ von Belinda Sallin, „Je suis FEMEN“ von Alain Margot, „ThuleTuvalu“ von Matthias von Gunten, „“Der Kreis“ von Stefan Haupt oder „Cure – Das Leben einer Anderen“ von Andrea Staka. Das Jubiläum der Filmtage ist in Solothurn übrigens nicht nur in den Kinos, sondern auch in der ganzen Innenstadt zu erleben. Fotografien aus der Geschichte der Filmtage sind in Ausstellungen im Alten Spital, im Künstlerhaus s11, in der Freitagsgalerie, an der Fassade des Kinos Palace und im Baseltor. Ob der Blick nostalgisch verklärt sein wird oder neugierig-kritisch – in jedem Fall wird sich der Blick auf die Gegenwart mit dieser Schau verändern und deshalb auch die Zukunft beeinflussen.
(Bettina Spoerri)
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