Vorschau auf das 71. Locarno Festival vom 1. - 11. August. Von Walter Gasperi
Die gewohnte Mischung auf der Piazza Grande und im Wettbewerb dürfte das letzte Programm von Carlo Chatrian bieten. Danach wird der Turiner Festivalorganisator bekanntlich die Leitung der Berlinale übernehmen.
Seit 2012 zog Carlo Chatrian beim Filmfestival am Lago Maggiore die Fäden. Mit vielen sperrigen Filmen verlieh der 1971 geborene Italiener dem Wettbewerb zunächst scharfe Konturen, leichter konsumierbar wurde diese Schiene dann zwar von Jahr zu Jahr, bewahrte aber doch eine klare Linie.
Schwerer tat sich der Festivalorganisator bei der Programmierung der Piazza Grande, rar gesät waren hier oft die Höhepunkte, möchte man dem Publikum doch Weltpremieren bieten, die freilich wenige Wochen vor den grossen Herbstfestivals von Venedig und Toronto kaum zu bekommen sind.
Klassischer Slapstick und neue US-Filme
Ein glückliches Händchen bewies Chatrian aber in den letzten Jahren bei den Retrospektiven zum unterschätzten deutschen Nachkriegskino sowie zu Jacques Tourneur. Heuer ist diese Programmschiene dem vielseitigen, aber heute nur noch wenig bekannten Hollywood-Regisseur Leo McCarey gewidmet. Mit seiner 20-minütigen stummen Slapstickkomödie „Liberty“, in dem das Komiker-Duo Stan Laurel und Oliver Hardy auf einer Hochhausbaustelle die Hosen zu tauschen versucht, startet das heurige Festival, ehe die Weltpremiere von Vianney Lebasques „Les beaux esprits“ für gute Stimmung sorgen soll.
Spike Lees satirischer Rassismus-Thriller „BlacKkKlansman“ wird in diesem Rahmen ebenso kurz vor dem Schweizer Kinostart zu sehen sein wie als Weltpremiere die vierteilige Fernsehserie „Coincoin et les z´inhumains“, deren Regisseur Bruno Dumont heuer mit dem Pardo d´Onore ausgezeichnet wird. Den Ton auf der Piazza geben die USA an, die neben Lee auch mit Ethan Hawkes Musikerporträt „Blaze“, dem Mystery-Thriller „Searching“ und Antoine Fuquas Actionkracher „The Equalizer 2“ vertreten sind.
Piazza Grande: Drei Schweizer Koproduktionen
Gewohnt stark präsent ist in dieser prachtvollen Freiluftarena aber auch wieder der Schweizer Film. So wird Denis Rabaglias schweizerisch-italienische Koproduktion „Un nemico che ti vuole bene“ ebenso ihre Weltpremiere feiern wie Bettina Oberlis französischsprachiges Liebesdrama „Le vent tourne“ und Duccio Chiarinis italienisch-schweizerisch-französische Koproduktion „L´ospite“. Nicht fehlen darf freilich auch ein deutscher Film, den heuer – wie schon vor 17 Jahren mit „Bella Martha“ – Sandra Nettelbeck mit „Was uns nicht umbringt“, einer Tragikomödie um einen Psychotherapeuten, beisteuert.
Treu bleibt Chatrian aber auch seiner Linie, auch auf der Piazza nicht nur publikumsattraktive Filme zu programmieren. So wurde mit dem kolumbianischen „Pájaros de verano“ Cristina Gallegos und Ciro Guerras Nachfolgefilm zu „Der Schamane und die Schlange“ ebenso eingeladen wie aus Ungarn Milorad Krstics Animationsfilm „Ruben Brandt, Collector“. Dazu kommt auch noch aus den Philippinen Lino Brockas 1975 gedrehter „Manila in the Claws of Light“, der als einer der besten Filme des Inselstaats überhaupt gilt.
Wettbewerb: Mix aus renommierten und unbekannten Namen
Die 15 Filme im Wettbewerb bringen auch heuer wieder eine Mischung aus bekannten Regisseuren und Newcomern. Zu den renommierten Namen zählen der Südkoreaner Hong Sangsoo, der „Gangbyun Hotel“ ins Leoparden-Rennen schickt, der Rumäne Radu Muntean mit „Alice T.“ sowie Thomas Imbach, dessen „Glaubenberg“, in dem es um eine unmögliche Geschwisterliebe geht, der einzige Schweizer Beitrag im Wettbewerb ist.
Geographisch breit gefächert präsentiert sich in dieser zentralen Sektion des Festivals das Programm. Stark vertreten ist Asien, aus dem neben Hong Sangsoo auch noch aus Taiwan Ying Liangs „A Family Tour“, aus Singapur Yeo Siew Huas „A Land Imagined“ sowie aus dem Libanon Abbas Fahdels „Yara“ eingeladen wurden.
815-minütiges Mammutwerk
Auffallend ist, dass viele Filme wie „Alice T.“ schon durch den Titel den Fokus auf die Hauptfigur lenken. Der Bogen spannt sich hier vom türkischen „Sibel“ (Regie: Cagla Zencirci und Guillaume Giovanetti) über den amerikanischen „Diane“ (Regie: Kent Jones) und „Menocchio“ des Italieners Alberto Fasulo bis zu „M“ der Französin Yolande Zauberman und „Ray & Liz“ des Briten Richard Billingham.
Gespannt sein darf man auch auf „Wintermärchen“, in dem Jan Bonny die Geschichte einer rechten Terrorzelle erzählt, sowie die beiden lateinamerikanischen Beiträge „Tarde para morir joven“ der Chilenin Dominga Sotomayor und „La flor“ des Argentiniers Mariono Llinás.
Letzterer, den Carlo Chatrian als „eine innige Hommage an die Traumfabrik Kino“ bezeichnet, dürfte mit seinen 815 (!) Minuten – also 13 ½ Stunden – grosse Geduld fordern, bleibe aber laut Chatrian „trotz seiner Länge so leicht wie eine Brise“. Es sei ein Film, der eine einzige riesige Sammlung von Geschichten sei, die aus allen Ecken der Welt stammen, und dessen Gesichter ein Echo hervorrufen.
Junge Talente und Filmgeschichte
Eine ähnliche Bandbreite wie der Haupt-Wettbewerb verspricht mit 16 Erst- und Zweitfilmen auch die Programmschiene „Cinéastes du present“, in der unter anderem aus der Schweiz Nicole Vögeles „Closing Time“ seine Weltpremiere feiern wird. Entdecken kann man hier auch Eva Trobischs „Alles ist gut“, der soeben beim Filmfest München mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet wurde.
Die ganz jungen Talente präsentieren ihre Kurzfilme dagegen in der Sektion „Pardo di domani“, aber auch die Filmgeschichte wird gepflegt. Freuen kann man sich so nicht nur auf die grosse Retrospektive des Werks von Leo McCarey, das sich von klassischen Slapstick-Komödien mit Stan Laurel und Oliver Hardy über das Marx Brothers Meisterwerk „Duck Soup“ bis zur klassischen Romanze „An Affair to Remember“ spannt, sondern auch auf Wiederaufführungen anlässlich von Preisverleihungen.
Hommagen und neue Dokumentarfilme
So wird die Verleihung des Pardo d´Onore an Bruno Dumont ebenso von einer kleinen Filmreihe begleitet wie die des Excellence Award an Ethan Hawke. Der Taviani-Brüder wird mit der Vorführung einer restaurierten Fassung von „Good Morning Babilonia“ gedacht und an den vor kurzem verstorbene Claude Lanzmann wird mit einer Aufführung seines bahnbrechenden neuneinhalbstündigen Dokumentarfilms „Shoah“ erinnert.
Wie gewohnt wird in Locarno auch heuer mit zehn Filmen ein Einblick ins aktuelle Schweizer Filmschaffen geboten, während die vom Schweizerischen Verband der Filmjournalistinnen und Filmjournalisten organisierte Semaine de la critique wiederum sieben Dokumentarfilme aus aller Welt präsentiert.
(Walter Gasperi)
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