Schlussbericht zur 64. Berlinale. Von Walter Gasperi
Richard Linklater sorgte mit „Boyhood“ bei der 64. Berlinale für einen Höhepunkt, der Goldene Bär ging aber an den chinesischen Film noir „Black Coal, Thin Ice“.
Fulminant war der Auftakt der heurigen Berlinale mit Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“. Der Texaner liess in dieser grossteils in Deutschland gedrehten Tragikomödie, die mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, die Zügel seiner Erzählfreude schiessen. Mit überbordendem Einfallsreichtum und horrendem Erzähltempo erzählt Anderson in seinem in einem märchenhaften Osteuropa der 1930er Jahren spielenden Film vom Concierge eines Luxushotels, der sowohl von der Polizei als auch von einem psychopathischen Killer gejagt wird, als er von einem Stammgast ein wertvolles Gemälde erbt.
Harter Realismus
Auf dieses Feuerwerk der Phantasie folgte die harte Realität. Hautnah folgt Yann Demange in „´71“ quasidokumentarisch einem jungen britischen Soldaten, der im Nordirlandkonflikt den Kontakt zu seiner Truppe verliert, auf seiner Odyssee durch ein Gebiet, in dem die Grenzen zwischen Freund und Feind alles andere als klar gezogen sind. Zwar vermittelt Demange keine tieferen Einblicke, beschwört aber beklemmend das Klima von Gewalt, Unsicherheit und permanenter Angst, das nicht nur im Nordirlandkonflikt, sondern in Kriegsgebieten allgemein herrscht.
Auf eine Odyssee schickt auch der Deutsche Edward Berger einen zehnjährigen Jungen in seinem dritten Kinofilm „Jack“. Wie Demange arbeitet auch Berger mit der Handkamera, folgt auf Schritt und Tritt Jack, der sich allein um seinen kleineren Bruder kümmern muss. Als die verantwortungslose Mutter schliesslich völlig verschwindet, machen sich die beiden Kinder auf die Suche nach ihr.
An Hirokazu Kore-Edas „Nobody Knows“ oder Ursula Meiers „L´enfant d´en haut“ erinnert die Geschichte, der Stil an die Filme der Dardennes. Deren Verdichtung erreicht Berger zwar nicht, dennoch berührt „Jack“ dank der nüchternen Erzählweise und dem intensiven Spiel Ivo Pietzckers.
Formal radikales Drama
Gegenpol zu dieser Vernachlässigung von Kindern ist die autoritäre Erziehung der fundamentalistisch katholischen Mutter in Dietrich Brüggemanns „Kreuzweg“, der mit einem Silbernen Bären für das beste Drehbuch und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde. Entlang der 14 Kreuzwegstationen von Jesus zeichnet Brüggemann mit großem Stilwillen in 14 von zwei Ausnahmen abgesehen statischen Einstellungen konzentriert den Leidensweg der 14-jährigen Maria nach, die durch diese religiöse Indoktrination und Einengung letztlich an ihrem Glauben stirbt.
Kinder im Zentrum
Kinder und Jugendliche standen auch in auffallend vielen weiteren Wettbewerbsfilmen im Zentrum. So erzählt die Argentinierin Celina Murga in „La Tercera Orilla – Das drittte Ufer des Flusses“ in ruhiger und genauer Beobachtung von einem 17-jährigen Jugendlichen, der langsam gegen seinen Macho-Vater, der ein Doppelleben führt, zu rebellieren beginnt. Die aus dem Iran stammende Österreicherin Subadeh Mortezai folgt in „Macondo“ ohne zu dramatisieren einem elfjährigen tschetschenischen Jungen durch seinen Alltag in einer Wiener Flüchtlingssiedlung. Bestechend ist dieser Film zwar in seinem dokumentarischen Blick auf das Milieu, vermag aber erzählerisch nicht zu überzeugen. Der überragende Film nicht nur innerhalb dieser Kindergeschichten, sondern des gesamten Wettbewerbs war aber Richard Linklaters mit dem Regiepreis ausgezeichneter „Boyhood“. Wie der Texaner in diesem über einen Zeitraum von zwölf Jahren gedrehten Langzeitprojekt in 164 Minuten von der Entwicklung eines sechsjährigen Kindes zum jungen Mann erzählt, ist sensationell. Weil hier dem Altern der Figuren nicht mit Maske oder wechselnden Darstellern nachgeholfen werden muss, sondern die Schauspieler real altern, weil der zeit- und kulturgeschichtliche Hintergrund nicht nachinszeniert wird, sondern authentisch in die Coming-of-Age-Geschichte einfliesst, entwickelt „Boyhood“ eine mitreissende Natürlichkeit und Echtheit.
Goldener Bär für chinesischen Film noir
Den Goldenen Bären vergab die achtköpfige Jury, die vom amerikanischen Produzenten James Schamus geleitet wurde, aber an den chinesischen Film noir „Black Coal, Thin Ice“. Visuell durchaus eindrucksvoll erzählt Diao Yinan darin von einem dem Alkohol verfallenen Ex-Polizisten, der sich in einen Mordfall verbeisst und sich im Lauf seiner Ermittlungen in eine zwielichtige Frau verliebt. Atmosphärisch dicht beschwört Yinan durch die Wahl einer winterlich kalten Stadt als Schauplatz und dunkle Farben, die markant von grellen Neonlichtern kontrastiert werden, das Bild eines tristen China, in dem die Durchschnittsbevölkerung Not leidet, während einige Wenige Reichtümer anhäufen. Stark spielt auch Liao Fan, der als bester Darsteller ausgezeichnet wurde, die Figur des gebrochenen Ex-Polizisten, doch Erzählweise und Handlung bewegen sich auf dem Niveau eines Durchschnittskrimis.
Rückkehr des Genrekinos?
Auffallend war aber, dass „Black Coal, Thin Ice“ nicht der einzige Genrefilm im Wettbewerb war. Während sich Yinan am amerikanischen Film noir der 1940er Jahre orientiert, spielt Ning Hao in „No Man´s Land“ mit dem Western und der „Mad Max“-Serie, mischt aber auch den schwarzen Humor der Coen-Brüder bei. Hao lässt in einer endlosen, ganz in Braun getauchten Wüstenlandschaft einen jungen Anwalt, einen kriminellen Falkenjäger und einen Tankstellenbesitzer aufeinander losgehen. So stark freilich der Beginn ist, so sehr wiederholen sich die Wendungen mit Fortdauer auch. Mit „Black Coal, Thin Ice“ verbindet diesen Film aber der pessimistische Blick auf Menschen, die sich gegenseitig zerfleischen.
Auch der Grieche Yannis Economides bedient sich des Genrekinos, um ein grimmiges Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse in seinem Heimatland zu zeichnen. In «To mikro psari - Stratos» schickt der 47-jährige Regisseur einen Killer durch desolate Vorstädte eines in kalte Farben getauchten Griechenland, in dem Gier das Handeln bestimmt und jede Moral und alle Werte längst aufgegeben wurden. Menschlichkeit legt hier als einziger ausgerechnet der Killer an den Tag.
Seitenhiebe gegen die norwegische Gesellschaft gibt es zwar auch in Hans Petter Molands „Kraftidioten“, doch in erster Linie soll diese pechschwarze, an den Coen-Film „Fargo“ erinnernde Komödie einfach gut unterhalten. Voll knochentrockenem, bösem Witz ist dieser Film über einen norwegischen Vorzeigebürger, der nach der Ermordung seines Sohnes einen Rachefeldzug startet, in den sich schliesslich auch ein von Bruno Ganz gespielter serbischer Gangsterboss einschaltet.
„Monuments Men“ und „Nymphomaniac 1“
Im Gegensatz zu diesem unterhaltsamen Wettbewerbsbeitrag enttäuschte George Clooneys ausser Konkurrenz gezeigter „Monuments Men“. Viel Potential bietet zwar die Geschichte um eine Gruppe von Kunstexperten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Allierten eingesetzt werden, um von den Nazis geraubte Kunstwerke zu retten. Clooney allerdings kann sich nicht entscheiden, ob er den Film als Komödie oder Spannungskino anlegen will, pendelt permanent zwischen verschiedenen Schauplätzen, und lässt auch Stars wie Matt Damon, John Goodman oder Bill Murray keine Zeit und keinen Raum, um ihren Figuren Profil zu verleihen.
Lars von Trier bot dagegen mit der zweieinhalbstündigen Langfassung des ersten Teils von „Nymphomaniac“ das, was man vom Dänen erwartet. Denn einerseits provoziert der Film über eine 50-jährige sexsüchtige Frau, die einem alleinstehenden Intellektuellen in acht Kapiteln ihr Leben erzählt, durch zahlreiche explizite Sexszenen, andererseits sorgen Bezüge zu Philosophie, Religion und Kulturgeschichte für inhaltliche Tiefe. Spielerisch jongliert hier von Trier mit der Form, fügt Animationen ein, wechselt zwischen Schwarzweiß und Farbe, zwischen Drama und aberwitziger Groteske. – Kein runder und geschlossener Film, aber jedenfalls aufregendes Kino.
(Walter Gasperi)
Preise der 64. Berlinale
Goldener Bär für den Besten Film | Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice) von Diao Yinan |
Silberner Bär Großer Preis der Jury | The Grand Budapest Hotel von Wes Anderson |
Silberner Bär Alfred-Bauer-Preis | Aimer, boire et chanter (Life of Riley) von Alain Resnais |
Silberner Bär für die Beste Regie | Richard Linklater für Boyhood |
Silberner Bär für die Beste Darstellerin | Haru Kuroki in Chiisai Ouchi (The Little House) von Yoji Yamada |
Silberner Bär für den Besten Darsteller | Liao Fan in Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice) von Diao Yinan |
Silberner Bär für das Beste Drehbuch | Dietrich Brüggemann, Anna Brüggemann für Kreuzweg von Dietrich Brüggemann |
Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung | Zeng Jian für die Kamera in Tui Na (Blind Massage) von Lou Ye |
Preis Bester Erstlingsfilm | Güeros von Alonso Ruizpalacios (Panorama) |
Golderner Ehrenbär | Ken Loach |
Berlinale Kamera | Karl Baumgartner |
KURZFILME
Goldener Bär für den Besten Kurzfilm | Tant qu'il nous reste des fusils à pompe (As long as shotguns remain) von Caroline Poggi und Jonathan Vinel |
Silberner Bär Preis der Jury (Kurzfilm) | LABORAT von Guillaume Cailleau |
Berlin Short Film Nominee for the European Film Awards 2014 | Taprobana von Gabriel Abrantes |
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