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Schlussbericht über die 66. Berlinale. Von Walter Gasperi

Schlussbericht über die 66. Berlinale. Von Walter Gasperi

Kein herausragendes Meisterwerk, aber inhaltliche Vielfalt und gesellschaftspolitisches Engagement prägte den Wettbewerb der 66. Berlinale. Wohl nicht nur aus künstlerischen Gründen wurde Gianfranco Rosis Lampedusa-Doku „Fuocoammare“ mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

Mit echtem, lustvollem Kintopp und grossem Starauflauf begann das Festival mit „Hail, Caesar!“ der Coen-Brüder. Das war es dann aber auch schon mit der ebenso großzügigen wie intelligenten Unterhaltung. Ernst wurde es in den folgenden zehn Tagen, lachen konnte man - zumindest im Wettbewerb - nur noch selten.

Idyll und Schrecken: „Fuocoammare“
Seit seiner Uraufführung am dritten Festivaltag lag Gianfranco Rosis „Fuocoammare“ im Kritikerspiegel des Branchenblatts Screen klar vorn. Wohl nicht nur aus künstlerischen Gründen, sondern wohl auch aufgrund der brennenden politischen Aktualität zeichnete nicht nur die von Meryl Streep geleitete offizielle Jury, sondern auch die Ökumenische Jury diesen Dokumentarfilm über das Leben auf und um die Mittelmeerinsel Lampedusa aus. 
Auf jeden Kommentar verzichtet der Italiener. In langen Einstellungen schildert er den beschaulichen Alltag eines auf Lampedusa lebenden Jungen, kontrastiert diesen aber zunehmend mit kurzen, aber erschütternden Bildern und Erzählungen zur Flüchtlingskatastrophe, die sich seit Jahren beinahe täglich vor dieser Mittelmeerinsel abspielt. Kontroversen löste „Fuocoammare“ dabei aus, weil Rosi auch nicht abblendet, wenn Tote geborgen werden, sondern den Zuschauer zwingt hinzuschauen.

Bosnische und europäische Probleme
Der Grosse Preis der Jury ging an „Death in Sarajewo“ von Danis Tanovic, der schon 2013 für „An Episode in the Life of an Iron Picker“ diesen Preis erhalten hatte. An einem Nachmittag und zur Gänze im Hotel Europa in Sarajewo spielt dieser Film und spricht dabei doch zahlreiche Probleme des heutigen Europa und speziell Bosniens und des Balkans an.
 Ausgangspunkt sind die Vorbereitungen für die Feiern zum 100. Jahrestag der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz-Ferdinand am 28. Juni 1914. 
Während auf dem Dach des Hotels eine TV-Journalistin der Einschätzung des Attentäters Gavrilo Princip im letzten Jahrhundert nachspürt und bosnisch-serbische Spannungen sichtbar werden, versucht der Hoteldirektor die Belegschaft, die seit Monaten keinen Lohn mehr erhalten hat, auch mit Gewalt von einem Streik abzuhalten. Gleichzeitig probt in der Präsidentensuite ein Ehrengast seine Rede, in der er ausgehend vom Attentat an die europäischen Verbrechen von Auschwitz bis Srebrenica erinnern will.
 Dialoglastig ist dieser Film zwar, entwickelt aber einerseits mit einer dynamischen Kamera, die immer wieder den Protagonisten durch die Gänge folgt, und andererseits durch den rasanten und geschmeidigen Wechsel zwischen den verschiedenen Schauplätzen grossen Drive.

Radikales Kino
Logische Sieger gab es bei den für besondere künstlerische Leistungen reservierten Preisen. Einerseits wurde der Kameramann Mark Lee Ping-bing des chinesischen Wettbewerbsbeitrags „Crosscurrent“ (Regie: Yang Chao) für seine grossartigen Bilder dieser sehr langsamen, gleichzeitig realistischen wie metaphorischen Reise auf dem Yangtse ausgezeichnet.
 Andererseits kam die Jury auch kaum an Lav Diaz´ achtstündigem „A Lullaby to the Sorrowful Mystery“ vorbei und verlieh diesem Monstrum von Film den „Alfred Bauer Preis“, mit dem neue Perspektiven der Filmkunst gekürt werden sollen. In den von diesem Regisseur gewohnten endlos langen, distanzierten Halbtotalen wird von der gescheiterten philippinischen Revolution gegen die spanischen Kolonialherren in den Jahren 1896/97 erzählt.
 Einen suggestiven Sog entwickelt dieser im 4:3-Format gedrehte Film mit seinen tiefenscharfen und kontrastreichen Schwarzweißbildern und seinen Naturgeräuschen als Tonkulisse, kann diesen aber nicht über seine gesamte Länge aufrecht erhalten und wirkt zumal in der ersten Hälfte auch zerrissen zwischen mehreren Erzählsträngen.

Darstellerpreise für Majd Mastoura und Trine Dyrholm
Überraschend, aber nicht unverdient wurde der Majd Mastoura für seine Leistung in Ben Attias „Hedi“ zum besten Schauspieler gekürt. Im Stil der Brüder Dardenne, die dieses Debüt koproduzierten, folgt die Kamera immer wieder hautnah dem tunesischen Autoverkäufer Hedi, dessen dominante Mutter bislang über sein Leben bestimmte und auch seine bevorstehende Hochzeit arrangierte. Erst die Liebe zur weltoffenen Rim lässt den jungen Mann sich aus der mütterlichen Umklammerung befreien und eigene Entscheidungen treffen. Unaufdringlich spiegelt Attia in dem sorgfältig aufgebauten und differenzierten Film in der Zerrissenheit Hedis zwischen Freiheitsstreben und Traditionsgebundenheit auch die Lage Tunesiens.
 Bei den Frauen zeichnete die Jury mit der Dänin Trine Dyrholm dagegen eine der Favoritinnen für den Darstellerpreis aus. Thomas Vinterbergs Verfilmung seines autobiographisch gefärbten Theaterstücks „Die Kommune“ vermochte zwar nicht zu überzeugen, weil der Dogma-Mitbegründer einerseits zu sehr auf einer Dreiecksgeschichte fokussiert und die Kommune in Folge vernachlässigt, andererseits unentschlossen zwischen komödiantischen Momenten und Drama schwankt, aber die schauspielerischen Leistungen sind exzellent. 
Vor allem Dyrholm brilliert als Frau, die zunächst locker damit umgeht, dass ihr Mann eine Geliebte hat, sogar vorschlägt, dass auch diese deutlich jüngere Frau im grossen Kopenhagener Haus einziehen soll, es aber dann immer weniger erträgt, in unmittelbarer Nähe von ihrem Mann und seiner Geliebten leben zu müssen.

Regiepreis für Mia Hansen-Løves „L´avenir“
Völlig verdient erhielt auch Mia Hansen-Løve den Regiepreis für ihren Spielfilm „L´avenir“. Dynamisch erzählt die junge Französin von einer von Isabelle Huppert gespielten Philosophieprofessorin, die völlig im Alltagstrott eingespannt ist, bis sie ihr Mann wegen einer anderen Frau verlässt und ihre Mutter stirbt. Zahlreiche Verpflichtungen fallen nun weg, doch mit der Freiheit, die sie gewinnt, muss sie erst lernen umzugehen.
 Schon ziemlich grossartig ist, wie Hansen-Løve um Huppert herum im Grunde vom ganzen Leben und seinen Wendungen erzählt und gleichzeitig auch gesellschaftliche Umbrüche anspricht: Ein reicher und dennoch leichter, nichts dramatisierender und dennoch mitfühlend-warmherziger und trotz der ernsten Themen sommerlich heller Film ist Hansen-Løve hier gelungen.

„Shooting Star“ Kacey Mottet Klein
Andre Téchinés Teenagerdrama „Quand on a 17 ans“ ging dagegen bei der Preisverleihung leer aus. Für einen Höhepunkt des Festivals sorgte der Altmeister mit diesem Film, denn leichthändig und jugendlich-frisch erzählt er von der Unsicherheit zweier Jugendlichen und ihrer Schwierigkeit mit ihren Ängsten und Sehnsüchten umzugehen. 
Geschickt lässt Téchiné Corentin Fila und den Lausanner Jungstar Kacey Mottet Klein, der bei der heurigen Berlinale auch als einer der „Shooting Stars“ ausgezeichnet wurde, sich aneinander reiben und spannt ein feinmaschiges Netz unterschiedlichster Gefühle.

Abtreibungsdrama und Cyber-War
Diskussionen auslösen dürfte Anne Zohra Berracheds Abtreibungsdrama „24 Wochen“. Enorme Dichte entwickelt dieser Film über ein Paar, das in seiner Entscheidung für das ungeborene Kind zu wanken beginnt, als neben einem Down-Syndrom auch ein schwerer Herzfehler diagnostiziert wird, besonders in den Gesprächen mit den nicht von Schauspielern, sondern von Fachleuten gespielten Ärzten und Hebammen. Nicht zu übersehen ist aber auch, dass dieser klassische Problemfilm davon abgesehen formal und im Durchdeklinieren des Themas wie ein Fernsehfilm wirkt, an dessen Anschluss sich eine Diskussion mit Experten und Betroffenen anbietet.
 Am Puls der Zeit ist auch der amerikanische Dokumentarfilmer Alex Gibney, wenn er in „Zero Days“ am Beispiel des Computerwurms Stuxnet, den vermutlich Israel und die USA gegen das iranische Atomprogramm entwickelten und einsetzten, die Gefahren zukünftiger Cyber-Kriege aufdeckt und zu Absprachen vergleichbar den früheren Rüstungsbeschränkungen bei Atomwaffen aufruft. 
Eine gewisse Redundanz und die vom Thema praktisch vorgegebene Dominanz von Talking Heads mag diesem Dokumentarfilm, hinter dem unübersehbar aufwendige Recherchen stehen, einiges an Durchschlagskraft rauben, aber das Bild, zu dem sich die Aussagen von Experten und das Schweigen von Geheimdienstlern fügt, löst nachhaltige Beunruhigung aus.
(Walter Gasperi)

Wichtigste Preise der 66. Berlinale

PREISE DER OFFIZIELLEN JURYS  
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM Fuocoammare
von Gianfranco Rosi
SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY Smrt u Sarajevu
von Danis Tanović
SILBERNER BÄR ALFRED-BAUER-PREIS
für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet
Hele Sa Hiwagang Hapis
von Lav Diaz
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE Mia Hansen-Løve
für L' avenir
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN Trine Dyrholm in Kollektivet
von Thomas Vinterberg
SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER Majd Mastoura in Inhebbek Hedi
von Mohamed Ben Attia
SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH Tomasz Wasilewski für Zjednoczone stany miłości
SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design Mark Lee Ping-Bing für die Kamera in Chang Jiang Tu
von Yang Chao
PREIS BESTER ERSTLINGSFILM Inhebbek Hedi
von Mohamed Ben Attia
PREISE DER UNABHÄNGIGEN JURYS  
PREISE DER ÖKUMENISCHEN JURY  
Wettbewerb Fuocoammare
von Gianfranco Rosi
Panorama Les premiers, les derniers
von Bouli Lanners
Forum Barakah yoqabil Barakah
von Mahmoud Sabbagh
ex aequo
Les Sauteurs
von Abou Bakar Sidibé, Estephan Wagner und Moritz Siebert
PREISE DER FIPRESCI JURY  
Wettbewerb Smrt u Sarajevu
von Danis Tanović
Panorama Aloys
von Tobias Nölle
Forum The Revolution Won't Be Televised
von Rama Thiaw
LESER- UND PUBLIKUMSPREISE  
PANORAMA PUBLIKUMS-PREIS  
Spielfilm Junction 48
von Udi Aloni
Dokumentarfilm Who's Gonna Love Me Now?
von Barak Heymann und Tomer Heymann
TEDDY PUBLIKUMSPREIS Théo et Hugo dans le même bateau
von Jacques Martineau und Olivier Ducastel
PREIS DER LESERJURY DER BERLINER MORGENPOST Fuocoammare
von Gianfranco Rosi
PREIS DER LESERJURY DES TAGESSPIEGEL Nikdy nejsme sami
von Petr Vaclav
PREISE DER INTERNATIONALEN KURZFILMJURY  
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM Balada de um Batráquio
von Leonor Teles
SILBERNER BÄR PREIS DER JURY UND BERLIN SHORT FILM NOMINEE FOR THE EUROPEAN FILM AWARDS A Man Returned
von Mahdi Fleifel

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