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Kurzfilmtage Winterthur: enthusiastisch, vielfältig, genderdivers. Von Irene Genhart

Kurzfilmtage Winterthur: enthusiastisch, vielfältig, genderdivers. Von Irene Genhart

Vom 7.-12. November finden in Winterthur die Internationalen Kurzfilmtage statt. Das grösste Kurzfilmfestival der Schweiz wartet in seinem 27. Jahr mit einem auffallend diversen und vielfältigen Programm auf. In 25 thematischen Blöcken und 16 Wettbewerbsprogrammen werden insgesamt 272 Kurzfilme vorgeführt, von denen der eine oder andere – so wie der in eine pinke Hüpfburg führende Festival-Trailer – einiges zu reden geben dürfte. Ergänzt wird das filmische Programm mit Ausstellungen, Performances, Installationen, Konzerten, Workshops, Partys und einem Sonderprogramm für die Branche.

Der Festivaltrailer der Kurzfilmtage 2023 zeigt, wie ein Teenie beim Verlassen eines Hauses lang und intensiv eine Frau umarmt, sie dürfte die Mutter sein. Die junge Person fährt los, auf dem Fahrrad, quer über Wiesen und Hügel. Nach einer Weile schmeisst sie das Rad hin, schaut vom Hügel hinunter in ein grünes Tal, wo eine rosarote Hüpfburg steht. Nachdem sie die letzte Strecke rennend hinter sich bringt, taucht die androgyne Figur ein ins Innere der Hüpfburg, wo eine genderdivers bunte Party im Gange ist: Derart herzlich offen und einladend wie im 27. Jahr, war der Trailer der Internationalen Kurzfilmtage Winterthur noch selten. Realisiert hat ihn die Basler Filmemacherin Nefeli Chrysa Avgeris. Sie hat in Winterthur in 2020 bereits „To Be There“ vorgestellt und 2022 „Mad to Be Gone“.

De facto erzählt dieser Trailer eine kurze Coming-Of-Age-Geschichte um die Ablösung vom Elternhaus und den Aufbruch ins eigenbestimmte Erwachsenenleben. In seiner starken Narration aber auch der Offenheit seiner Einladung und dem Verweis auf die Gendervielfalt repräsentiert er sehr schön, was die Winterthurer Kurzfilmtage 2023 kennzeichnet – oder was dem künstlerischen Leiter John Canciani, dem kaufmännischen Leiter Stefan Dobler und dem bunt zusammengewürfelten Team von über 60 Mitarbeitenden dieses Jahr ein besonderes Anliegen sein dürfte.

Kernstück der Kurzfilmtage sind der Internationale und der Schweizer Wettbewerb. Gezeigt werden in den beiden Wettbewerben 35 bzw. 17 Filme; 52 % der Wettbewerbsbeiträge wurden von Frauen realisiert, 6 % von non-binären Personen, 42% von Männern. Unter den Wettbewerbsbeiträgen finden sich im internationalen Wettbewerb nebst Filmen von Regieneulingen auch Werke von arrivierten Filmemachenden wie Niles Atallah („Vitanuova“), Siegfried A. Fruhauf „Cave Painting“, Julia Borderie und Eloïse Le Gallo („Æquo“) und Caroloine Sandvik („The Lovers“). Unter den bekannteren Namen des Schweizer Wettbewerbs figurieren diejenigen von Jadwiga Kowalska („The Car That Came Back From the Sea“), Cosima Frei („There Is No End to This Story“), Jela Hasler („La Gravidité“), Matthias Schüpbach („Searching Fort he 5th Direction“) und Basil da Cunha („2720“).

Mit Blick auf das aktuelle Programm erklärt John Canciani, dass man 2023 erfreulich wenige Covid-Film-Einreichungen erhalten habe. Doch man lebe in einer ereignisreichen Zeit, die viele Fragen aufwirft, und der Kurzfilm, der sich eben auch innerhalb kurzer Zeit produzieren lässt, sei die ideale Form, um sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. Abgesehen davon, meint Canciani, dass sich unter den Schweizer Beiträgen auch dieses Jahr viele starke dokumentarische Arbeiten finden, und dass die Beiträge des internationalen Wettbewerbs einen vermehrten Hang zum Storytelling, dem Geschichten-Erzählen erkennen lassen.

Ebenso spannend und mindestens so wichtig wie die Wettbewerbe, sind in Winterthur die kuratierten Rahmen- und Spezialprogramme. Allen voran die drei – einem Thema, einem Land, einer Person gewidmeten – Fokusprogramme. Entdecken lässt sich da („Person im Fokus“) etwa das Schaffen des deutschen Filmemachers Willy Hans. Besonders sehenswert ist Hans‘ Trilogie „Das satanische Dickicht“, in der die Magie des Übernatürlichen auf das Alltägliche trifft. Das Programm „Land im Fokus“ richtet den Blick auf den „Nigerian New Wave“, die jüngste Generation nigerianischer Filmschaffender, deren Werke, in den letzten drei Jahren entstanden, eine klare Abwendung vom Stil des Nollywood-Mainstreams erkennen lassen.

Das Programm „Grosser Fokus: O Canada“ bietet Einblicke in Kanadas Kurzfilmschaffen. Die einzelnen Programm-Blöcke tragen sprechende Titel wie „Natur & Nurture“, „Behind the Masc“, „Challenge for Change“. Ein Block ist der seit den 1970er-Jahren existierenden „Winnipeg Film Group“ gewidmet, deren (ver-rückten) Werke sich durch die einfallsreiche Experimentierfreude ihrer Macher uns Macherinnen auszeichnet. Ein anderer dem Künstler, Autor und Filmemacher Bruce LaBruce, der Kanadas Queer-Cinema seit den 1980er-Jahren mit seinen provokativen originellen und oft auch sehr witzigen Arbeiten nachhaltig prägt. Bei dem unter dem Titel „You Are in Bear Country“ angekündigte Block, handelt es sich um eine 70 minütige Live-Performance, in der sich der Musiker Nico Fehr und der Experimentalfilmer Matthew Rankin mit von Rankin gedrehten Werbefilmen für Kanadische Naturparks auseinandersetzten, die vom Auftraggeber zurückgewiesen wurden.

Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die in Winterthur regelmässig anzutreffenden, historischen Programme. Nebst der Weiterführung des letztjährig begonnen Programms „Sport ist Mord“, das den Mythos Sport aus unterschiedlichsten Positionen beleuchtet, fallen im diesjährigen Programm zwei Blöcke auf, die zwei wichtige und prägende Aspekte der Filmgeschichte aufgreifen. Das eine ist das 16mm-Format, das andere Walt Disney. 16mm ist gemäss Kurzfilmtagekatalog das „vielseitigste Filmformat aller Zeiten“, Walt Disney, bzw. die von ihm gegründeten Studios und von diesen realisierten Filmen, welche die Popkultur nachhaltig beeinflussen. Disney und 16mm gibt es beide seit 100 Jahren.

Der Programmblock „100 Jahre 16mm“ besteht aus einem bunten Programm von Schweizer Produktionen – Experimental-, Schul- und Dokumentarfilmen. Der der älteste, „Schulkolonie Schlief“, ist 1932 entstanden, der jüngste, „Myhophyta“ von Georges Dufaux 1980. Im Programm „100 Jahre Disney“ finden sich nebst frühen Werken wie „Cinderella“ (1922) und „Alice in Wonderland“ (1923) der erste Micky Mouse-Film („Steamboat Willie“, 1928) aber auch spätere Werke wie „Trailer Horn“ (1950) und „Lambert the Sheepish Lion“.

Einen guten ersten Einblick ins vielfältige Programm der 27. Internationalen Kurzfilmtage Winterthur vermittelt ein zur Eröffnung extra zusammengestelltes Programm mit Werken aus den verschiedenen Programmblöcken. Das Programm am 7.11. um 20.30h im blue Cinema Maxx gezeigt, der Eintritt ist kostenlos.

Die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur sind das grösste Filmfestival der Schweiz, das sich ausschliesslich mit dem Kurzfilm auseinandersetzt, und verstehen sich nebenbei als nationales Kompetenzzentrum für die kurze filmische Form. Sie bieten dem Publikum an den sechs Festivaltagen nebst einem kurzweiligen Programm mit Werken aus (möglichst) der ganzen Welt auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit deren Regisseurinnen und Regisseuren. Mittels anschliessend an die Vorführung geführten Gesprächen. Oder in Form des jährlich am Donnerstag stattfindenden „Schweizer Filmschulentags“.

Am „Schweizer Filmschulentag“ stellen die für Filmemachenden wichtigsten Ausbildungsstätten der Schweiz – die Ecole cantonale d’art de Lausanne (ECAL), die Haute école d’art et de design Genève (HEAD), die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und die Hochschule Luzern Design & Kunst (HSLU) – Arbeiten aus ihren Bachelor-Lehrgängen vor. Die Vorstellungen sind öffentlich zugänglich, der Besuch ist kostenlos. Die Regisseure und Regisseurinnen der Filme erhalten anschliessend an die Vorführung Feedback von der Jury des Schweizer Wettbewerbs. Ebendiese Jury – es gehören ihr dieses Jahr die kanadische Filmemacherin Emilie Poirier, Head of Short Film & Feature Film Programmer vom Festival Nouveau Cinema Montreal, Pierre-Ives Walder, der künstlerische Leiter des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) und der Tessiner Dokumentarfilmer Stefano Knuchel an – vergibt für den besten Schweizer Schulfilm einen Preis, die Preisübergabe findet am Rahmen der Industry-Preisverleihung am Samstag 11.11. um 19:30 im oxyd – Kunsträume statt.

Der „Schweizer Filmschulentag“ gehört wie das „Industry Lab“ und der „Creators’ Room“ zu den in Winterthur stattfindenden „Industry Events“; Veranstaltungen, welche der Vernetzung innerhalb der Filmbranche dienen und den Austausch über aktuelle Themen, kreative Methoden und ästhetische Tendenzen fördern. Die im Rahmen der „Industry Events“ angebotenen Veranstaltungen, es gehören dazu nebst den bereits erwähnten diverse weitere Veranstaltungen wie Keynotes, Roundtables, Market Meetings, sind für Branchenangehörige frei zugänglich, verlangen aber eine Registrierung.

Das „Industry Lab“ (10.11.23) setzt sich unter dem Motto „Human-Machine“ (Mensch-Maschine) mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Filmindustrie auseinander. Am Vormittag wird in einem Keynote-Referat erklärt, was KI bereits kann und was sie in Zukunft können könnte. Der darauffolgende Roundtable greift das Thema in Bezug auf Drehbuchschreiben und Filmkritik auf. Am Nachmittag wird unter dem Titel „The Future of Shorts: Leave the Bubble, Unleash the Shorts!“ diskutiert, inwiefern Festivalveranstalter dazu beitragen können, den Diskurs über Kurzfilme über die Festivalwelt hinaus zu fördern. In der anschliessenden Panel-Diskussion („Introducing Audience Design“) wird erörtert, wie in Hinblick auf den Vertrieb eines Films das Publikum von Anfang an in ein Projekt einbezogen werden kann.

Die Veranstaltungen des „Creaters‘ Room“ (11.11.23.) setzen sich mit praktischen Aspekten der Filmproduktion auseinander. Angeboten werden zwei Workshops. Der eine führt in die Arbeit mit analogem Filmmaterial ein. Im anderen erfährt man, wie sich in der Kombination von Motioncapture und Gameengine ein Animationsfilm in Echtzeit drehen lässt. Ebenfalls im Angebot finden sich eine Masterclass mit Willy Hans („Person im Fokus“), eine öffentliche Pitching Session, in der sich Schweizer Kurzfilmprojekte einer internationalen Jury stellen, und von FOCAL durchgeführte „Script Coaching Sessions“ für ausgewählte Projekte.

Doch auch für das breite Publikum gibt es in Winterthur während den Kurzfilmtagen einiges mehr noch zu entdecken als bloss Filme. Etwa das Programm „Expanded Cinema“, das sich der audiovisuellen Kunst fern von Leinwand und Kinovorführung widmet. Es besteht aus Multimedia- und Video-Installationen, die während des Festivals – einige davon sogar einige Wochen länger – in den oxyd-Kunsträumen, auf dem Lagerplatz und dem Katharina-Sulzer-Platz zu besichtigen sind. Gezeigt werden Arbeiten von Ursula Biemann Baron Lanteigne, Marc Lee, Pascal Pendl, Céline Brunko und Moritz Holenstein.

Diese Expanded Cinema-Arbeiten, oft im freien Raum aufgestellt, prägen die Stimmung der Kurzfilmtage seit einigen Jahren massgebend mit. Und seit die Kurzfilmtage ihr Zentrum 2022 sozusagen hinter die (oder auf die andere Seite der) Geleise verlegten und das blue Cinema Maxx, nebst dem Kino Cameo zum Hauptabspielort machten, spielen sich Arbeiten, in die Landschaft des ehemaligen Industrie-Areals gestellt, dem Festivalpublikum sehr viel stärker ins Bewusstsein als davor. Im letzten Jahr vermisste man beim Besuch der Kurzfilmtage etwas den lebhaften Treffpunkt, den das Casino in seiner Kombination aus Vorführstätte, Ticketausgabe, Infothek und Restaurationsbetrieb bot. Ebenso die liebevoll gestalte und originelle Dekoration, welche den Räumen des Casinos für sechs Tage jeweils eine besondere Kurzfilmtag-Ambiente verpassten. Dieses Jahr, versprach John Canciani, werde das anders sein. Das Museum Schaffen, in dem letztes Jahr die Akkreditierungen abgegeben wurde, derweil nebenbei eine Ausstellung stattfand, steht dieses Jahr ganz dem Kurzfilmtagen zur Verfügung. So kann man 2023 da nicht mehr nur kurz vorbeischauen, sondern in den Workspaces auf der Galerie und der im Parterre eingerichteten Gastrostätte auch ein bisschen verweilen. Und auch das blue Cinema Maxx bekommt für die Dauer des Festivals eine Dekoration verpasst, die zur stark von (nicht nur) jugendlicher Entdeckerfreude, Originalität und Experimentierfreude geprägten Stimmung und dem anregenden Diskurs der Kurzfilmtage passt.

Die Verleihung der Industry-Preise findet am 11.11. um 19.30h im oxyd-Kunsträume statt (Eintritt frei) (Preis für den besten Schweizer Schulfilm/ Postproduktionspreis/ European Short Pitch 2023/24/ Residency @ P.AiR.S)

Die Preisverleihung der Kurzfilmtage findet am 12.11. um 18.00h im blue Cinema Maxx statt (mit Ticket) (Alle Wettbewerbspreise + Publikumspreis)

Programm und Tickets Kurzfilmtage: https://www.kurzfilmtage.ch/de

Programm und Anmeldung Industry Events: https://www.kurzfilmtage.ch/de/industry/industry-events