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Grosse Emotionen auf und neben der Leinwand: Das 19. ZFF vermochte zu gefallen

Grosse Emotionen auf und neben der Leinwand: Das 19. ZFF vermochte zu gefallen

Von Irene Genhart

Elf Tage und 150, statt der angekündigten 148 Filme. Zum Abschluss je ein Goldenes Auge an die Siegerfilme des dreiteiligen Wettbewerbs: Obwohl in den ersten Tagen vom Skandal um den Schokofabrikant Läderach etwas überschattet, dürfte sich das mit einem starken Programm und viel angereister Prominzen aufwartende 19. ZFF als Edition der Konsolidierung in Erinnerung schreiben. Dies nicht zuletzt, weil es seinen Besuchern und den Bewohnern der Stadt Zürich mit der (Wieder-)Inbetriebnahme des neu unter dem Namen „Frame“ figurierenden Kinos an der Lagerstrasse 104 ein riesiges Geschenk machte.

Am 7. Oktober 2023, dem Vorabend des letzten Festivaltages des 19. ZFF, wurden im Opernhaus Zürich die „Goldenen Augen“ für Siegesfilme des Wettbewerbs verliehen. Sie gingen in der Fokus-Sektion an „Hollywoodgate“ von Ibrahim Nash’at, im Spielfilmwettbewerb an Selman Nacars „Hesitation Wound“ und bei den Dokumentarfilmen an „In the Rearview“ von Maciek Hamela. Es sind dies drei thematisch eher düstere Filme. Sie sind geprägt von den Zeichen der Zeit. Zeugen von gegenwärtigen Kriegen und deren Auswüchsen und von rüder politischer Machtübernahme. Von Traumata, die sich über Gesellschaften legen, von Flucht und unbestimmter Zukunft. Auch von moralischem Dilemma einzelner, die sich plötzlich getäuscht sehen. So wie die Rechtsanwältin, die in „The Hesitation Wound“ mit der Verteidigung eines des Mords angeklagten betraut, von dessen Unschuld felsenfest überzeugt ist, bis dieser ihr seine Tat selber gesteht.

Die drei Filme sind nicht schön, aber stark. Und sie prägen sich nachhaltig ein. Vor allem „Hollywoodgate“, dessen Regisseur zwei Tage nachdem die USA ihre Truppen abgezogen hatte nach Afghanistan flog. Hier gelang es Ibrahim Nash’at das Vertrauen des Chefs der Taliban-Luftwaffe und eines Leutnants zu gewinnen, die er in der Folge über ein Jahr lang begleitete. Obwohl Nash’at nur unter strengster Auflage filmen durfte, wurde er an vorderster Front Zeuge der Machtübernahme durch die Taliban. Was man im Film zu sehen bekommt, ist in der puren Entäusserung männlicher Machtgier zutiefst erschreckend und beängstigend. Und was es für die Frauen und Mädchen in Afghanistan bedeutet, möchte man sich nach diesem Film am liebsten nicht ausmalen und doch lässt einen den Gedanken daran nicht in Ruhe.

Ebenso wenig vergessen wird man das kleine Mädchen aus der Ukraine, das in „In the Rearview“ zusammen mit seiner Mutter und einigen anderen im VW-Bus des Regisseurs Maciek Hamela sitzt. Er bringt seine Fahrgäste – vorwiegend ältere Menschen, Frauen und Kinder – aus der ukrainischen Gefahrenzone über die Grenze nach Polen. Die Fahrt führt oft durch schwer kriegsversehrtes Gebiet. Doch manchmal ändert sich die Landschaft und es tauchen Dörfer auf, in denen die Häuser noch ganz sind. Als die Fahrt am Ufer eines Meeres oder grossen Sees entlangführt, fragt das kleine Mädchen seine Mutter unverblümt um Zustimmung heischend, ob man nach dem Krieg da Ferien machen werde.

Ebenfalls verliehen wurde am 7. Oktober der Publikumspreis. Dieser ging in den letzten Jahren auffallend oft an Schweizer Produktionen. Dieses Jahr aber gehörte die Gunst des Publikums „Queendom“ von Agniia Galdanova, den übrigens auch die Jury des Dokumentarfilm-Wettbewerbs mit einer lobenden Erwähnung bedachte. Tatsächlich ist „Queendom“ einer der herausragendsten Filme nicht nur des Dokumentarfilmwettbewerbs, sondern des ganzen Festivals. Das liegt vor allem an seiner charismatischen Protagonistin, Gennadyi, die in jungen Jahren vom provinziellen Magadan nach Moskau zieht und dort unter dem Namen Gena Marvyn als Dragqueen auftritt. Sie engagiert sich für die künstlerische Freiheit ebenso wie für die Rechte der LGBTQ+ Community, wird aber verhaftet, als sie im Vorfrühling 2022 in aller Öffentlichkeit gegen die kriegerische Intervention Russlands in der Ukraine protestiert.

Agniia Galdanova, die ursprünglich eigentlich einen Film über die versteckte Drag-Szene Russlands drehen wollte, begleitet Gennadyi über längere Zeit. Das angespannte Verhältnis zu den Grosseltern, bei denen Gennadyi aufwuchs, wird im Film ebenso thematisiert, wie Gennadyis Identitätssuche und Gewalt und das Unverständnis, mit dem sich Gennadyi in der Heimat konfrontiert sieht. Und nachdem es Gennadyi in letzter Minute gelungen ist, sich aus Moskau nach Paris abzusetzen, stehen im Film das Gefühl von Freiheit und Dazugehörigkeit im krassen Gegensatz zur vom Heimweh geprägten Sehnsucht nach der in der Heimat verbliebenen Familie. „Queendom“ ist ein überaus feinfühliger, zugleich auch sehr mutiger Film. Mutig, nicht nur von Seiten der Protagonistin, die sich auch in privaten Momenten filmen lässt, sondern auch von Seite der Regisseurin, die – wie sie am ZFF erzählte – oft auch unter Voraussicht allfälliger unschöner Vorkomnisse filmte und damit ohne explizit Anklage zu erheben die unhaltbare Zustände schildert, denen sich die LGBTQ+ Community in Russland ausgesetzt sieht.

Es gab am 19. ZFF etliche Filme zu entdecken, die sich mit LGBTQ+ Themen auseinandersetzten oder diese zumindest aufgriffen. Es gehörte dazu etwa Sam F. Freeman und Ng Choon Pings „Femme“ um Jules, der in London bisweilen als Dragqueen auftritt und in eine Auseinandersetzung mit homophoben Rowdies verwickelt wird. Ebenso Anna Hints „Smoke Sauna Sisterhood“, der das von der UNESCO als Weltkulturerbe deklarierte Ritual der finnischen Sauna aufgreift und dabei den vertraulichen Gesprächen miteinander befreundeten Frauen lauscht – deren Inhalte eigentlich die Räume der Sauna eigentlich nicht verlassen sollten.

Bleibt von den ausgezeichneten Filmen noch zu erwähnen der sowohl mit dem „Emerging Swiss Talent Award“ wie auch dem Filmpreis der Zürcher Kirchen ausgezeichnete „Las Toreras“ von Jackie Brutsche. Es ist Brutsches erster Film. Er schildert der Regisseurin Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer psychisch kranken Mutter, die sich mit 40 Jahren das Leben nahm, und den toxisch aufgeladenen Beziehungen, die das Gefüge ihrer spanisch-schweizerischen Familie prägen. „Las Toreras“, dokumentarische Recherche und künstlerische Umsetzung kongenial vermischend, ist in seiner Umsetzung originell und im persönlichen Ansatz couragiert. Und er trägt zur Enttabuisierung eines Themas bei, das offensichtlich selbst in den besten Familien bis heute noch liebend gern verschwiegen wird.

Nachdem das Zurich Film Festival mit der Aufführung von Kristoffer Broglis „Dream Scenario“ am 28.9. im Corso offiziell eröffnet wurde, fand es am 8.10. mit der Vorführung von Emerald Fennells „Saltburn“ im Kongresshaus seinen offiziellen Abschluss. Die beiden Filme sind im Festivalprogramm als Satire angekündigt. De facto aber ist der erste eine zunehmend düstere Komödie, um nicht zu sagen ein Alptraum-Drama. Und das zweite ein satirisch angehauchter Thriller, der auf dem Hintergrund einer homosexuell angedeuteten Beziehung von Aufsteigergelüsten und fleischlicher Begierde berichtend. Beide Filme wirken in ihrer Eigenartigkeit tief verstörend. Was sich nicht als Schwäche, sondern als Stärke erweist. Denn von den 150 Filmen am ZFF gezeigten Filmen, bleiben vor allem diejenigen in Erinnerung, die irritieren.

Das waren dieses Jahr auch ausserhalb des Wettbewerbs-Programms einige. Yorgos Lanthimos in Anlehnung an Frankenstein entstandener „Poor Things“ etwa und Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ über das idyllische Privatleben, das der NS-Kommandant Rudolf Höss mit seiner Frau und Kindern ausserhalb der Mauer des KZs von Auschwitz führte. Oder aber auch die zwei Filme, die im gedruckten ZFF-Programm nicht zu finden sind, weil sie später erst ins Festival aufgenommen wurden: Martin Scorseses bildergewaltiger „Killers of the Flower Moon“, der mit Leonardo DiCaprio und Robert De Niro in den Hauptrollen in 3 Stunden und 26 Minuten die sogenannten Osage-Morde der 1920-er Jahre aufarbeitet. Und Nikolaj Arcel im 18. Jahrhundert spielenden Historiendrama „The Promised Land“, in dem Mads Mikkelsen in der Rolle eines verdienten dänischen Soldaten die Heide von Jütland mittels Kartoffelanbau urbar zu machen versucht.

Mads Mikkelsen wurde am 19. ZFF mit einem Golden Eye Award für seine Karriere geehrt. Weitere Ehrenpreise gingen an Diane Kruger, Jessica Chastain, Todd Haines, Volker Bertelmann, Michel Merkt und Fred Kogel: Solange Festivaldirektor Christian Jungen selbst in schwierigen Zeiten, in denen Hollywoods Autoren und Schauspieler streiken und den Auftritt an Festivals meiden, auf die grünen Teppiche des Zurich Film Festival bringt, ist dieses in seinen Händen bestens aufgehoben. Und dass dank dem ZFF das vor einigen Monaten bankrottgegangene Kino an der Lagerstrasse 104, das mit zu bestausgerüsteten der Stadt Zürich gehört, nicht nur während dem ZFF sondern ganzjährig wieder bespielt wird, ist ein grosses Geschenk an die Bevölkerung der Stadt und alle anderen, die um ins Kino zu gehen nach Zürich pilgern.

Preise des 19. ZFF

Spielfilm-Wettbewerb Hesitation Wound - Tereddüt Çizgisi
Regie: Selman Nacar, Spanien/Frankreich/Rumänien/Türkei
Besondere Erwähnung Le Ravissement
Regie: Iris Kaltenbäck, Frankreich
   
Fokus-Wettbewerb Hollywoodgate
Regie: Ibrahim Nash’at, Deutschland/USA
Besondere Erwähnung Laissez-Moi
Regie: Maxime Rappaz, Schweiz/Frankreich/Belgien
   
Dokumentarfilm-Wettbewerb In The Rearview - Skąd dokąd
Regie: Maciek Hamela, Pèolen/Frankreich/Ukraine
Besondere Erwähnung Queendom
Regie: Agniia Galdanova, USA/Frankreich
   
Publikumspreis Queendom
Regie: Agniia Galdanova, USA/Frankreich
   
Emerging Swiss Talent Award (Kritikerpreis) Las Toreras
Regie: Jacky Brutsche, Schweiz
   
Filmpreis der Zürcher Kirchen Las Toreras
Regie: Jacky Brutsche, Schweiz
   
Beste internationale Filmmusik Eliott Murphy
   
ZFF für Kinder  
Jurypreis Dancing Queen
Regie: Aurora Gossé, Norwegen
Publikumspreis Checker Tobi und die Reise zu den fliegenden Flüssen
Regie: Johannes Honsell, Deutschland
   
Ehrenpreise  
A Tribute to ... Award Todd Haynes
Golden Icon Award Jessica Chastain
Career Achievement Award Volker Bertelmann
Career Achievement Award Michel Merkt
Golden Eye Award Diane Kruger
Golden Eye Award Mads Mikkelsen
Game Changer Award Fred Kogel