Die Preise der 70. Berlinale. Von Walter Gasperi
Einen ansprechenden, aber keinen herausragenden Wettbewerb bot die erste Berlinale unter der Leitung der neuen Doppelspitze mit dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian und der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek. Der Goldene Bär – und ebenso der Preis der Ökumenischen Jury - ging an „There Is No Evil“ des Iraners Mohammad Rasoulof, der aufgrund eines Reiseverbots nicht nach Berlin reisen durfte.
Etwas überraschend vergab die siebenköpfige Jury unter der Leitung des britischen Schauspielers Jeremy Irons den Goldenen Bären an „There Is No Evil“, denn bei den Kritikern kam der Episodenfilm – der Autor dieses Artikels konnte ihn leider nicht sehen - nicht so gut an und lag beispielsweise im Kritikerspiegel der Fachzeitschrift Screen nicht im Spitzenfeld.
Wenn man aber bedenkt, dass sich Berlin immer als politisches Festival verstand und beispielsweise auch schon 2015 „Teheran Taxi“ des mit Arbeitsverbot belegten Iraners Javar Panahi mit dem Goldenen Bären auszeichnete, ist die Entscheidung wiederum doch nicht so überraschend. Einerseits erzählt Rasoulof nämlich in vier Episoden von dem Versuch in einer Diktatur seine individuelle Freiheit zu behaupten, andererseits wurde der Regisseur wie schon Panahi vor fünf Jahren mit einem Reiseverbot belegt, sodass er den Triumph seines Filmes nicht persönlich miterleben konnte.
Spezialpreis der Jury für „Never Rarely Sometimes Always”
Ganz oben in der Kritikergunst und zurecht mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde dagegen Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“. Unaufgeregt, aber mit genauem Blick für Details und fürs Milieu sowie mit den zwei herausragenden jungen Schauspielerinnen Sidney Flanigan und Talia Ryder erzählt Hittman von einer schwangeren 17-Jährigen, die sich für eine Mutterschaft noch nicht bereit fühlt, aber in ihrer Heimat Pennsylvania für eine Abtreibung die Zustimmung der Eltern benötigt. Deshalb bricht der Teenager mit ihrer Cousine nach New York auf, um dort den Eingriff durchführen zu lassen.
Immer wieder wird im Laufe des Films, dessen Handlung sich nur über wenige Tage erstreckt, beiläufig die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen durch Männer aufgedeckt und „Never Rarely Sometimes Always“, dessen Titel sich auf einen Fragebogen zu sexueller Nötigung bezieht, wird so zu einem gleichzeitig unaufdringlichen, aber entschlossenen und starken Plädoyer für die Selbstbestimmung der Frau.
Regiepreis für Hong Sangsoo
Auch der Regiepreis für den Südkoreaner Hong Sangsoo für „The Woman Who Ran“ geht in Ordnung. Auch hier ist die Geschichte ganz klein gehalten, beschränkt sich darauf, dass eine Frau um die 40 während der Abwesenheit ihres Mannes hintereinander drei Freundinnen besucht.
Aus kaum mehr als 20 Einstellungen bestehen die 77 Minuten, statisch ist die Kamera meist, einzig Zooms sorgen wiederholt für Bewegung. Frontal erfasst die Kamera die Sprechenden auf einer Couch oder an einem Tisch, dem Schuss-Gegenschuss-Verfahren verweigert sich Hong konsequent, Musik wird nur eingesetzt wenn die von Hongs Stammschauspielerin Kim Minhee gespielte Protagonistin von einem Besuch zum nächsten wechselt und kurz eine Strassen- oder Stadtansicht eingeschoben wird.
Banal sind die Gespräche der Frauen, kreisen ums Grillen, um Vegetarismus und die Schönheit von Kühen, um Hühner, das Bild eines Malers oder eine frische Bekanntschaft. Die Kunst Hongs besteht freilich gerade darin, wie er in diesem trügerisch einfachen Film in diesen belanglosen Gesprächen aufdeckt, wie Reden häufig dazu dient, vom Wesentlichen abzulenken und die wahren Gefühle zu verdecken.
Silberne Bären für „Favolacce“ und „Effacer l´historique“
Mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch für „Favolacce“ („Bad Tales“) von den D'Innocenzo-Brüdern und dem Jubiläums-Silbernen Bären für „Effacer l´historique“ („Verlauf löschen“) von Benoit Delepine und Gustave Kervern zeichnete die Jury schließlich zwei Filme aus, die auf aktuellen gesellschaftlichen Problemen fokussieren, aber künstlerisch nicht überzeugen konnten.
Delepine / Kervern packen in den Alltag von drei Menschen des Prekariats nahezu alle Probleme der digitalen Zeit von Online-Kaufsucht über das Streben eine gute Bewertung im Internet zu bekommen bis zu TV-Seriensucht, endlose Warteschleifen bei Telefonanrufen, Erpressung durch Sex-Videos, Cyber-Mobbing und Zusatzverdienst mit Vermietung der eigenen Wohnung. Leider zünden aber die Gags nur selten, jeder Biss verpufft durch die oberflächliche Fülle und die Protagonisten bleiben zu unsympathisch, als dass man Mitgefühl entwickeln könnte.
An die Filme von Ulrich Seidl erinnert dagegen „Favolacce“, in dem die D´Innocenzo-Brüder einen Blick auf eine Siedlung im Brachland um Rom werfen und schockierende soziale Verhältnisse aufdecken. Kein Interesse zeigen hier die Eltern für ihre Kinder, ein rüder Umgangston herrscht, die sich selbst überlassenen Kinder beginnen Bomben zu basteln oder auch selbst Gift zu nehmen. - Eine erschütternde Milieuschilderung ist das, doch um wirklich zu überzeugen, fehlt der ebenso grimmige wie unerbittliche Blick eines Ulrich Seidl.
Darstellerpreise für Paula Beer und Elio Germano
Als bester Darsteller wurde Elio Germano ausgezeichnet, der in Giorgio Dirittis Biopic „Volevo Nascondermi – Hidden Away“ eindrücklich den 1899 in Zürich als Sohn einer Italienerin geborenen naiven Maler Antonio Ligabue verkörpert. Nach Aufenthalten in Heimen und der Psychiatrie 1919 nach Italien abgeschoben, fristete Ligabue auch dort das Leben eines Außenseiters, ehe seine Bilder entdeckt wurden, er aber weiterhin von seiner Umwelt ausgenutzt wurde.
Atmosphärisch dicht evoziert Diritti das Leben in der Po-Ebene in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die Erzählweise ist doch zu klassisch und überraschungsarm.
Bei der Auszeichnung der besten Darstellerin gab es durchaus auch Alternativen zu Paula Beer als Hauptdarstellerin in Christian Petzolds „Undine“, aber immerhin erhielt dieser starke Film neben dem Preis der FIPRESCI Jury damit auch einen Preis der Internationalen Jury.
Weitere Höhepunkte: „Undine“ und „First Cow“
Christian Petzold legte mit „Undine“ nach „Yella“, „Gespenster“ oder auch „Phoenix“ einen weiteren Film vor, in dem er Geisterhaftes mit der Realität mischt. Einerseits taucht er über seine Protagonistin Undine, die in Berlin Vorträge zur Stadtarchitektur hält, tief in die Geschichte der deutschen Hauptstadt ein, andererseits erzählt er über das mythische Wasserwesen Undine eine romantische Liebesgeschichte.
Gerade aus der Verbindung von heutiger Welt und Mythischem, gewissermaßen von festem Grund und fließenden Unterwasserszenen, entwickelt dieser Film, der gewohnt kühl, aber sehr konzentriert und mit einer präzisen Bildsprache, durch die nichts beliebig wirkt, sondern jedes Bild Bedeutung gewinnt und sich einprägt, inszeniert ist, große Faszination und Sogkraft.
Einen wunderbar untypischen Western, der von der Jury leider übersehen wurde, legte dagegen Kelly Reichardt mit „First Cow“ vor. Statt auf Action, Revolverhelden und Rinderbarone fokussiert die Amerikanerin auf alltäglichen Handlungen vom Reinigen einer Hütte bis zum Backen von Keksen und auf einen Koch und einen Chinesen. Zufällig begegnen sich diese Randfiguren im frühen 19. Jahrhundert in einer abgelegenen Siedlung in Oregon und bauen sich ein Geschäft auf, indem sie heimlich die einzige Kuh der ganzen Region, die dem Chef der Siedlung gehört, melken, um Kekse zu backen, die bald reissenden Absatz finden. – So unspektakulär, wunderbar entschleunigt und von leisem Witz durchzogen ist dieser Film über eine große Freundschaft, dass man ihn einfach mögen muss.
Die Schweiz im Wettbewerb: „Schwesterlein“
Leer ging auch der Schweizer Wettbewerbsbeitrag „Schwesterlein“ aus. Bewegend, aber auch sehr fernsehmäßig erzählen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond von der Beziehung eines an Krebs erkrankten Schauspielers (Lars Eidinger) zu seiner Zwillingsschwester (Nina Hoss), die alles der Fürsorge des Bruders unterordnet. Unterstützt von einem starken Ensemble loten Chuat / Reymond diese Beziehung, aber auch die Auswirkungen auf die Umwelt wie die Ehe der Schwester oder den früheren Regisseurs des Kranken differenziert und ausgewogen aus und schonen den Zuschauer auch nicht bei der Schilderung des sich verschlechternden Gesundheitszustands des Bruders.
(Walter Gasperi)
Weitere Berichte über die Berlinale von Walter Gasperi auf film-netz.com
PREISE DER OFFIZIELLEN JURY | |
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN FILM |
Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil) von Mohammad Rasoulof |
SILBERNER BÄR GROSSER PREIS DER JURY |
Never Rarely Sometimes Always von Eliza Hittman |
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE REGIE |
Hong Sangsoo für Domangchin yeoja (The Woman Who Ran) |
SILBERNER BÄR FÜR DIE BESTE DARSTELLERIN |
Paula Beer in Undine von Christian Petzold |
SILBERNER BÄR FÜR DEN BESTEN DARSTELLER |
Elio Germano in Volevo nascondermi (Hidden Away) von Giorgio Diritti |
SILBENER BÄR FÜR DAS BESTE DREHBUCH |
D'Innocenzo Brothers für Favolacce (Bad Tales) von D'Innocenzo Brothers |
SILBERNER BÄR FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design |
Jürgen Jürges für die Kamera in DAU. Natasha von Ilya Khrzhanovskiy, Jekaterina Oertel |
Silberner Bär |
Effacer l’historique (Delete History) von Benoît Delépine, Gustave Kervern |
ENCOUNTERS JURY | |
Bester Film |
The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) von C.W. Winter, Anders Edström |
Spezialpreis der Jury |
The Trouble With Being Born von Sandra Wollner |
Beste Regie |
Malmkrog von Cristi Puiu |
Lobende Erwähnung |
Isabella von Matías Piñeiro |
GWFF PREIS BESTER ERSTLINGSFILM |
Los conductos von Camilo Restrepo |
Lobende Erwähnung |
Nackte Tiere (Naked Animals) von Melanie Waelde |
INTERNATIONALE KURZFILMJURY: | |
GOLDENER BÄR FÜR DEN BESTEN KURZFILM |
T von Keisha Rae Witherspoon |
SILBERNER BÄR PREIS DER JURY UND BERLIN SHORT FILM NOMINEE FOR THE EUROPEAN FILM AWARDS |
Filipiñana von Rafael Manuel |
AUDI KURZFILMPREIS |
Genius Loci von Adrien Mérigeau |
BERLINER KURZFILMKANDIDAT FÜR DIE EUROPEAN FILM AWARDS |
It Wasn’t the Right Mountain, Mohammad von Mili Pecherer |
UNABHÄNGIGE JURIES | |
PREISE DER ÖKUMENISCHEN JURY | |
Wettbewerb |
Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil) von Mohammad Rasoulof |
Panorama |
Otac (Father) von Srdan Golubović |
Lobende Erwähnung |
Saudi Runaway von Susanne Regina Meures |
Forum |
Seishin 0 (Zero) von Kazuhiro Soda |
PREISE DER FIPRESCI JURY | |
Wettbewerb |
Undine von Christian Petzold |
Encounters |
A metamorfose dos pássaros (The Metamorphosis of Birds) von Catarina Vasconcelos |
Panorama |
Mogul Mowgli von Bassam Tariq |
Forum |
The Twentieth Century von Matthew Rankin |
GILDE FILMPREIS |
Sheytan vojud nadarad (There Is No Evil) von Mohammad Rasoulof |
CICAE ART CINEMA AWARD | |
Panorama |
Digger von Georgis Grigorakis |
Forum |
Ping jing (The Calming) von Song Fang |
LABEL EUROPA CINEMAS |
Håp (Hope) von Maria Sødahl |
TEDDY AWARD | |
Bester Spielfilm |
Futur Drei (No Hard Feelings) von Faraz Shariat |
Bester Dokumentar-/Essayfilm |
Si c’était de l’amour (If It Were Love) von Patric Chiha |
Bester Kurzfilm |
Playback. Ensayo de una despedida (Playback) von Agustina Comedi |
Special Jury Award |
Rizi (Days) von Tsai Ming-Liang |
Teddy Activist Award | Olga Baranova, Maxim Lapunov, David Isteev |
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