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Der Palmarès des 70. Festival von Cannes. Von Doris Senn

Der Palmarès des 70. Festival von Cannes. Von Doris Senn

Am 70. Festival von Cannes, das gestern zu Ende ging und sich aufgrund der Sicherheitsmassnahmen mehr als bewehrte Festung denn als beflügeltes Festival präsentierte, war Netflix das prägende Thema. Trotz Jubiläum und Highlights keine geschichtsträchtige Ausgabe.

Netflix versus Cannes – und ein Coup der neuen Kulturministerin
Nachdem Netflix ankündigte, seine beiden Filme im Wettbewerb (den selbst produzierten Actionthriller „Okja“ um ein Superschwein und das Familiendrama „The Meyerowitz Stories“) ohne Umweg übers Kino den Abonnent/innen anzubieten, herrschte Aufregung an der Croisette. Jury-Präsident Pedro Almodóvar verteidigte das Kino, US-Rapper und Jury-Mitglied Will Smith setzte sich für die Streaming-Plattform ein, während Tilda Swinton, die in „Okja“ eine Rolle innehat, lau meinte, dass jeder das Recht habe, seine Meinung zu äussern. Dazu kam dann noch eine Vorführpanne bei „Okja“ (das falsche Bildformat!), und schon war von „Sabotage“ die Rede… Doch dürfte man das Festival zu Recht fragen, weshalb es sich so über Netflix enervierte, lancierte es doch selbst – und dies erstmals in seiner 70-jährigen Geschichte – zwei TV-Serien (die Fortsetzung von „Top of the Lake“ von Jane Campion und das Revival von David Lynchs „Twin Peaks“) und rührte dafür eifrigst die Werbetrommel.

Der aufgewirbelte Staub sollte sich zu Ende des Festivals jedoch wieder gelegt haben: Ein neues Reglement besagt nun, dass die Kinoauswertung für Filme im Cannes-Wettbewerb künftig zwingend ist – und Frankreich, das Land mit der bedeutendsten Filmindustrie in Europa und der restriktivsten Filmpolitik, was den Import von Hollywood-Streifen betrifft, konnte soeben in der EU die Quote europäischer Filme für Streaming-Plattformen erfolgreich von 20 auf 30 Prozent anheben. Ein bemerkenswerter Überraschungserfolg der neu eingesetzten französischen Kulturministerin Françoise Nyssen.

Wundertüte Wettbewerb: Illustere Namen – mediokre Werke
Die Königsdisziplin des Festivals erwies sich als Wundertüte. Noch selten herrschte in den Sternchenlisten der Kritik während des Festivals eine so grosse Bandbreite an Einschätzungen vor. Entsprechend gross war die Neugier, wofür sich die Jury unter den 19 Werken des Wettbewerbs – davon nicht weniger als 12 Literaturverfilmungen! – letztlich entscheiden würde. Dabei gingen einige illustere Namen leer aus. So das neuste Werk von Todd Haynes, der bereits zwei Jahre nach „Carol“ das aufwendige Epos „Wonderstruck“ präsentierte: als kunstvoll-prätentiöse Zeitreise und Hommage an den Film und New York: zum einen in den 1920ern – zum andern in der von Aufbruch geprägten 1970ern. Zu gestelzt die aufwendig konstruierte Story, die in einem süsslichen Happy End strandet. Ebenfalls nicht in die Ränge kam der teils durchaus packende, mit humorigen Einsprengseln durchsetzte Horror-Thriller „L’amant double“ von François Ozon, der in einer (un)heimlichen Ménage-à-trois die Codes der Psychoanalyse durchkonjugiert. Futter für die Psycho-Gilde lieferte auch Sofia Coppola mit ihrem zwar atmosphärischen, aber überraschungslosen Remake „The Beguiled“ über eine Mädchenschule während des Sezessionskriegs, wobei die Zurückgebliebenen die Liebesgunst eines aufgenommenen verletzten Soldaten (Colin Farrell) zu erhaschen suchen (der Film erhielt nichtsdestotrotz den Regiepreis).

Einen Tiefpunkt erreichte der Wettbewerb mit Jacques Doillons „Rodin“: Für den erst im letzten Jahr in Cannes für seine brillante Leistung in „La loi du marché“ ausgezeichnete Vincent Lindon waren die Schuhe des grossartigen Bildhauers mindestens zwei Nummern zu gross: Ohne jegliches Charisma vermochte er die spannungslosen (Bühnen-)Totalen (Kamera: Christophe Beaucarne) auch nicht annähernd zu füllen – während sich Izïa Higelin als Camille Claudel ebenso einen Film lang nicht aus ihrer mädchenhaften Scheu dem grossen Meister gegenüber befreien konnte.

Die Highlights – und der Palmarès
Was für eine Wucht dagegen der Film von Robin Campillo „120 battements par minute“! Die mitreissende Geschichte des Interessenverbands Act Up in den 90ern in Paris taucht uns in ein engagiertes Kapitel der jüngeren Geschichte ein – den Kampf gegen die Aids-Epidemie. „120 battements par minute“ zeigt die Anstrengungen der Gruppe gegen die soziale Stigmatisierung von HIV-Positiven und Aids-Kranken, gegen die Ignoranz der Gesellschaft und die Passivität der Politik (Mitterrand!) sowie gegen die einzig auf ihren Gewinn bedachten Pharmafirmen. Campillo verknüpft das Porträt der Gruppe – ihre Aktionen, internen Querelen und langwierigen Gruppendiskussionen – mit einer einnehmenden Liebesstory, der Geschichte von Freundschaft(en) und einer solidarischen Community. Der Film schafft dabei immer wieder visuell grandiose Momente – wenn der politische Kampf in ausgelassene Partystimmung übergeht, Staubpartikel zu glänzenden Glimmerteilchen in der Disco-Ekstase werden – und schliesslich zum endlosen Sternenhimmel, der sich in eine Makroaufnahme verwandelt, in der die Viruskörper zu wunderlichen Sternengebilden mutieren. „120 battements par minute“ wurde mit dem Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci), der Queer Palm (dem LGBT-Preis in Cannes) und bei der Schlussveranstaltung mit dem Grand Prix der Jury sowie einer Standing Ovation belohnt.

Überraschend amüsant – leider ohne von der Jury gewürdigt zu werden – das „kleine“ Biopic zu Jean-Luc Godard: „Le redoutable“ von Michel Hazanavicius („The Artist“). Basierend auf dem Buch von Anne Wiazemsky, die kurzzeitig in den 60ern mit JLG verheiratet war und mit ihm „La Chinoise“ drehte, gelingt Hazanavicius mit Louis Garrel in der Hauptrolle und Stacy Martin als Anne ein unterhaltsames Zeitporträt, das die oft als entrückt-menschenscheue Ikone der Nouvelle Vague auf menschliche Dimensionen zurückschrumpft und ihn als sympathisch-humorvollen, aber auch gegen seinen Willen zur Legende hochstilisierten Filmemacher und eher glücklos agierenden „Revolutionär“ zeigt. Leichtfüssig inszeniert, spielt Hazanavicius in seinem Film, dessen Titel auf ein U-Boot namens Redoutable („furchterregend“) auf die „untergetauchte“ Kultfigur anspielt, auf vergnügliche Art und Weise mit den avantgardistischen Stilmitteln, die Godard und dessen Werk auszeichnen.

Als Entdeckung und eigentliches „Ereignis“ darf der Film „Jeune femme“, das Erstlingswerk der französischen Regisseurin Léonor Serraile, gewertet werden: ein Schauspielerinnenfilm par excellence mit einer schlicht grossartigen Laetitia Dosch in der Hauptrolle. Diese verkörpert in 97 atemlosen Minuten die 31-jährige Paula, die in Paris von ihrem Typen – einem erfolgreichen Fotografen – nach zehn Jahren Beziehung vor die Tür gesetzt wird und die folgenden Tage mit dessen Siamkatze im Arm sich durch die Strassen der Grossstadt treiben lässt. In ihren temperamentvollen Tiraden und Eskapaden spielt Dosch sämtliche Facetten einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs – immer in Begleitung einer Kamera (Émilie Noblet), die unmittelbar und doch unaufdringlich die Protagonistin einzufangen weiss. In der Nebensektion des Festivals, Un certain regard, gezeigt, wurde der Film hochverdient mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet.
(Doris Senn)

Preise des 70. Festival de Cannes

Internationaler Wettbewerb  
Goldene Palme THE SQUARE, Regie: Ruben Östlund
Grosser Preis 120 BATTEMENTS PAR MINUTE, Regie: Robin Campillo
Beste Regie Sofia Coppola, THE BEGUILED
Preis der Jury Andrey Zvyagintsev, NELYUBOV (LOVELESS)
Beste Darstellerin Diane Kruger, AUS DEM NICHTS
Bester Darsteller Joaquin Phoenix, YOU WERE NEVER REALLY HERE
Bestes Drehbuch
ex aequo
Yórgos Lánthimos & Efthimis Filippou, THE KILLING OF A SACRED DEER
Lynne Ramsay, YOU WERE NEVER REALLY HERE
Goldene Kamera Léonor Serraille, JEUNE FEMME
Spezialpreis 70 Jahre-Festival Nicole Kidman
   
Un Certain Regard  
Preis Un Certain Regard LERD, Regie: Mohammad Rasoulof
Preis der Jury LAS HIJAS DE ABRIL, Regie: Michel Franco
Beste Darstellerin Jasmine Trinca, FORTUNATA
Preis für die Poesie im Kino BARBARA, Regie: Mathieu Amalric
Bestes Drehbuch Taylor Sheridan, WIND RIVER
   
Cinéfondation  
Erster Preis PAUL EST LA, Regie: Valentina Maurel
Zweiter Preis HEYVAN, Regie: Bahman Ark, Bahram Ark
Dritter Preis DEUX EGARES SONT MORTS, Regie: Tommaso Usberti
   
Kurzfilme  
Goldene Palme XIAO CHENG ER YUE (A GENTLE NIGHT), Regie: Yang Qiu
Besondere Erwähnung KATTO (The CEILING), Regie: Teppo Airaksinen