Bericht zum 67. Filmfestival Locarno. Von Walter Gasperi
Auch heuer bestimmten filmsprachlich innovative Werke den Wettbewerb. Mit Lav Diaz´ „Mula sa kung ano ang noon“ („From What Is Before“) wurde ein zweifellos immer wieder grandioser, aber mit fünfeinhalb Stunden doch überlanger Film mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Leichtere, aber durchaus ansprechende Kost bot dagegen das Piazza-Programm.
Ein klares Profil gibt Carlo Chatrian diesem Festival: Im Wettbewerb setzt er auf sperrige, ästhetisch avancierte Filme, das Piazza-Programm bestimmen europäische Produktionen, die menschliche Geschichten erzählen. Nur zur Eröffnung krachte es mit Luc Bessons Actionthriller „Lucy“ mächtig.
Eintauchen in die philippinische Geschichte
338 Minuten lang erzählt der Filipino Lav Diaz in seinem nicht nur mit dem Goldenen Leoparden, sondern auch vom Verband der FilmkritikerInnen (FIPRESCI) und weiteren unabhängigen Jurys (International Federation of Film Societies, Premio Giuria dei giovani) ausgezeichneten Film von einem abgelegenen philippinischen Dorf Anfang der 1970er Jahre.
In langen statischen Totalen und Halbtotalen schildert Diaz in diesem Schwarzweißfilm zunächst ausführlich das alltägliche Dorfleben. Geredet wird kaum, auf Musik verzichtet Diaz ganz, vertraut allein auf Naturgeräusche wie den prasselnden Regen, das Gackern der Hühner, den pfeifenden Wind oder die ans felsige Ufer schlagende Brandung. Manchmal verschwinden die Menschen in den perfekt komponierten und ungemein tiefenscharfen Bildern fast ganz in der wuchernden Natur.
Erst langsam fügen sich einzelne Szenen zu einer Geschichte, kristallisieren sich Protagonisten heraus und breitet sich durch geschlachtete Rinder, einen Toten und brennende Hütten eine diffuse Bedrohung aus, bis Soldaten in das Dorf vordringen und Präsident Marcos in einer Radiorede am 21. September 1972 das Kriegsrecht ausruft.
Das ist zweifellos mit großer Konsequenz und Stilwillen inszeniert und auch an grossartigen Einstellungen, die sich ins Gedächtnis des Zuschauers einprägen, fehlt es nicht, doch über die ganze Länge in seinen Bann zu ziehen vermag dieses Opus magnum zumindest im Rahmen eines hektischen Festivalbetriebs nicht.
Wettbewerb à la Chatrian
Zwar war „Mula sa kung ano ang noon“ der mit Abstand längste Film des Wettbewerbs, doch bei weitem nicht der sperrigste. Um eine Ahnung vom Inhalt von Pedro Costas „Cavalo Dinheiro“, der mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, zu bekommen, musste man schon den Katalog zu Hilfe nehmen. Denn so kunstvoll der Film auch ausgeleuchtet ist, so sehr sich auch das leuchtende Rot eines Hemdes oder eines Motorrads dem Gedächtnis einprägt, so wenig fügen sich die ellenlangen Dialoge zu einer Geschichte. Kaum mehr als diffus erahnen konnte man, dass es um Männer von den Kap Verdischen Inseln geht, die in den Ziegelfabriken von Lissabon arbeiteten und bei der Revolution von 1975 eine Rolle spielten.
Abgehobenes französisches Kunstkino bot der 83-jährige Franzose Paul Vechiali mit seiner sehr statischen und theatralischen, bewusst künstlichen, aber letztlich hohlen Dostojewski-Adaption „Nuits blanches sur la jetée“, während „Ventos de Agosto“, der erste Spielfilm des brasilianischen Dokumentarfilmers Gabriel Mascaro, zwar bestechend fotografiert ist, die isolierten Momentaufnahmen sich aber nur bruchstückhaft zu einer Geschichte fügen.
Sperriges von Staka, Vertrautes von Melgar
Mühelos fortsetzen liesse sich die Liste der nicht gerade leicht zugänglichen Wettbewerbsfilme und als sperrig erwies sich auch Andrea Stakas Nachfolgefilm zu „Das Fräulein“. Im Mittelpunkt von „Cure – The Life of Another“ steht die etwa 15-jährige Linda, die zwar in der Schweiz aufgewachsen ist, 1993 aber mit ihrem Vater in die Gegend von Dubrovnik zurückkehrt. In Eta findet sie eine gleichaltrige Freundin, die aber bei einem Streit über die Klippen stürzt und stirbt. Linda aber beginnt, von Schuldgefühlen gequält, bei Etas vom Krieg traumatisierter Grossmutter die Rolle Etas zu übernehmen, agiert bald als sie selbst, bald als ihre tote Freundin.
Staka erzählt weniger eine lineare Geschichte, sondern versucht vielmehr in einer bewusst zerrissenen Erzählweise, die psychische Verfassung Lindas erfahrbar zu machen. Abrupt lässt die Regisseurin Szenen aufeinanderprallen und Linda die Identität wechseln, fügt aber auch ansatzlos Traum- oder Erinnerungsbilder in die Realität ein. Nachvollziehbar wird so die Zerrissenheit der von Sylvie Marinković grossartig gespielten Protagonistin, die nicht nur in der schwierigen Zeit der Adoleszenz, sondern eben auch zwischen der Schweiz und Kroatien steht. Und schließlich spielen auch noch mit dem Trauma der Grossmutter, aber auch mit verminten Wäldern und Bombeneinschlägen jenseits der nahen Grenze die Nachwirkungen des Krieges herein. So kunstvoll dieser Film über eine schwierige Identitätssuche aber auch montiert ist, so schwer macht er dem Zuschauer in seiner Sprunghaftigkeit den emotionalen Zugang.
Einfacher aufgebaut ist zweifellos Fernand Melgars Dokumentarfilm „L´abri“. Kommentarlos, ohne Hintergrundinformationen und ohne Musik dokumentiert der Westschweizer im Direct Cinema-Stil den Kampf am Eingang einer Lausanner Notunterkunft für Obdachlose um einen der nur 50 Schlafplätze. Melgar zeigt auch, welche „Ersatzschlafplätze“ die Abgewiesenen suchen und deckt die Überforderung des Personals auf, doch neue Erkenntnisse und Einblicke vermag er kaum zu vermitteln, tendiert vielmehr im Laufe der 100 Minuten zu ausgesprochener Redundanz. Das kann durchaus Strategie des Regisseurs sein, wird der Zuschauer dadurch doch gezwungen, immer wieder auf Situationen zu schauen, bei denen er sonst lieber wegschaut, doch überzeugender wird „L´abri dadurch kaum.
Sozial engagiertes Kino und typischer US-Indie
Dünn gesät waren im Wettbewerb die Filme, denen man auch Chancen beim Publikum zutrauen kann. Tiefpessimistisch ist zwar die mit dem Preis für den besten Darsteller und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnete russische Gesellschaftsparabel „Durak – Der Idiot“, packt aber in seiner direkten, freilich auch konventionellen Erzählweise von Anfang bis Ende.
Mit den Augen eines aufrechten Klempners, der eine Katastrophe verhindern will, lässt Yury Bykov den Zuschauer nicht nur auf die durch und durch korrupte russische Bürokratie blicken, sondern zeigt auch schonungslos, wie Not und desolate Wohnverhältnisse auch bei der Unterschicht schon jede Menschlichkeit absterben liessen.
Typisches US-Independent-Kino bietet dagegen Alex Ross Perry mit seinem mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichneten „Listen Up Philip“. Im Mittelpunkt steht ein egozentrischer Schriftsteller, der seinen Verleger ebenso nervt wie einen langjährigen Freund, mit seiner Freundin Schluss macht und sich ins Landhaus seines Idols, das auch nicht sympathischer ist, zurückzieht.
Die Kunst Ross Perrys und seines Hauptdarstellers Jason Schwartzmann besteht einerseits darin das Interesse für dieses Ekelpaket, das keine Läuterung durchmachen wird, aufrecht zu erhalten, andererseits wunderbar locker und natürlich zu erzählen, dass man dem Leben zuzuschauen meint. Dramatisierung ist nicht nötig, die unaufgeregte Begleitung des Protagonisten, dessen Verhalten und Handlungen immer wieder von einem geschickt eingeflochtenen Off-Erzähler kommentiert werden, gute Dialoge und ein sanfter jazziger Soundtrack, der eine melancholische Stimmung erzeugt, reichen für einen zwar nicht besonders überraschenden oder innovativen, aber immerhin runden und sehr sympathischen Film völlig aus.
Ansprechendes Piazza-Programm
Ganz grosse Filme fehlten zwar auf der Piazza, doch das Programm konnte durchaus überzeugen. Nicht besonders nachhaltig wirkt zwar Lasse Hallströms Bestseller-Verfilmung „The Hundred-Foot Journey“, aber handwerkliche Perfektion, eine wie fast immer wunderbare Helen Mirren, sichere Beherrschung des Erzähltempos und zahlreiche Postkartenansichten von der malerischen Gegend um den Zusammenfluss von Tarn und Garonne sowie das ausgiebige Zelebrieren von indischer und französischer Kochkunst machen dieses Feelgoodmovie zu einer entspannten Abendunterhaltung.
Diese bietet auch die Tragikomödie „Hin und weg“, in der Christian Zübert von einer Gruppe von Freunden erzählt, die eine Radtour nach Belgien unternehmen, wo – wie erst im Lauf des Films bekannt wird – einer von ihnen aufgrund einer tödlichen Krankheit durch Sterbehilfe aus dem Leben scheiden will. Unterstützt von einem starken Ensemble wechselt Zübert sicher zwischen gefühlvollen und komödiantischen Momenten. Vorwerfen kann man dem Film freilich, dass er durch und durch kalkuliert ist, dem Zuschauer keinen Freiraum lässt, sondern ihn mit allen inszenatorischen Tricks gekonnt emotional manipuliert und vereinnahmt.
Publikumspreis für „Schweizer Helden“
Leicht schiefgehen können hätte Peter Luisis Komödie über eine von Mann und Freundinnen verlassene Frau, die zur Selbstfindung mit den Insassen eines Asylantenheims eine Aufführung von Schillers „Wilhelm Tell“ einstudiert. Schlimmes befürchtet man bei „Schweizer Helden“ schon, als die Asylanten als Karikaturen vorgeführt werden, doch geschickt bricht Luisi dieses Bild, wenn sie bald von der Regisseurin Respekt einfordern oder Mitspieler während der Proben des Stücks abgeschoben werden. Und selbst das Ende ist gebrochen, verstellt nicht den Blick auf das Los von Asylanten, sondern ruft es nochmals in Erinnerung.
Nicht alles ist hier gelungen, zu viel wird angerissen und nicht weiter entwickelt, doch der schwierige Balanceakt zwischen bedrückender Realität und Komödie ist Luisi erstaunlich gut gelungen. Vorwerfen kann man dem Schweizer zwar, dass hier die Situation der Asylanten weichgespült geschildert werde, doch darf man nicht übersehen, dass gerade eine solche Komödie ein Publikum erreichen könnte, das sich sonst dem Problem verschliesst und so in unterhaltsamer Verpackung zum Nachdenken angeregt wird. – Der Publikumspreis ist ein Indiz, dass diese Rechnung aufgehen könnte.
Das Leuchten der „Marie Heurtin“
Für die schönste Überraschung auf der Piazza sorgte aber Jean-Pierre Améris mit „Marie Heurtin“, der völlig zurecht mit dem Variety Piazza Grande Award ausgezeichnet wurde. Nach einem Fall im ausgehenden 19. Jahrhundert zeichnet Améris die Geschichte der taubblinden 14-jährigen Marie Heurtin nach, die von ihren Eltern in ein Frauenkloster gebracht wird, in dem man sich um gehörlose Mädchen kümmert. Leidenschaftlich setzt sich die junge Nonne Marguerite für Marie ein, muss aber lange kämpfen, bis sich Erfolge bei dem widerborstigen Mädchen zeigen, es sich waschen und frisieren lässt und schließlich übers Ertasten auch die Gebärdensprache lernt.
Das Wunder dieses Films sind einerseits die lichtdurchfluteten und in leuchtendes Grün getauchten Bilder, die in starkem Kontrast zur Dunkelheit der Welt der Protagonistin stehen. Wie dieses Mädchen die Welt erfasst, macht Améris in ihrem Tasten und Beschnuppern fast physisch erfahrbar und macht dabei auch die Bedeutung des von gesunden Menschen oft unterschätzten Tast- und Geruchssinn bewusst.
Gleichzeitig erzählt der Franzose („Die anonymen Romantiker“) aber auch bewegend vom aufopferungsvollen und nie nachlassenden Einsatz der jungen Nonne, von einem Lernprozess und einem Lehrer-Schülerverhältnis, bei dem die Lehrerin vielleicht noch mehr durch den Erfolg ihrer Bemühungen beschenkt wird als ihr Schützling von seinen Fortschritten. – Nicht nur ein Highlight auf der Piazza war „Marie Heurtin“, sondern hätte auch im sehr sperrigen Wettbewerb aufzeigen können, dass im Kino nicht nur extremer Kunstwillen zählt.
(Walter Gasperi)
Preise des 67. Filmfestival Locarno
INTERNATIONALER WETTBEWERB | WETTBEWERB "CINEASTI DEL PRESENTE" |
Goldener Leopard MULA SA KUNG ANO ANG NOON (From What Is Before) von Lav Diaz, Philippinen |
Goldener Leopard NAVAJAZO von Ricardo Silva, Mexiko |
Spezialpreis der Jury LISTEN UP PHILIP von Alex Ross Perry, USA |
Spezialpreis der Jury LOS HONGOS von Oscar Ruiz Navia, Kolumbien/Frankreich/Argentinien/Deutschland |
Leopard für die Beste Regie PEDRO COSTA für CAVALO DINHEIRO, Portugal |
Leopard für die Beste Regie LA CREAZIONE DI SIGNIFICATO von Simone Rapisarda Casanova, Kanada/Italien |
Leopard für die beste weibliche Darstellerin ARIANE LABED für FIDELIO, L’ODYSSÉE D’ALICE von Lucie Borleteau, Frankreich |
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Leopard für den besten männlichen Darsteller ARTEM BYSTROV für DURAK (The Fool) von Yury Bykov, Russland |
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Besondere Erwähnung VENTOS DE AGOSTO von Gabriel Mascaro, Brasilen |
Besondere Erwähnung UN JEUNE POETE von Damien Manivel, Frankreich |
ERSTLINGSFILME | |
Goldener Leopard SONGS FROM THE NORTH von Soon-mi YOO, USA/Südkorea /Portugal |
Besondere Erwähnung PAROLE DE KAMIKAZE von SAWADA Masa, Frankreich |
KURZFILMWETTBEWERB "PARDI DI DOMANI" | |
INTERNATIONALER WETTBEWERB | NATIONALER WETTBEWERB |
Goldener Leopard ABANDONED GOODS von Pia Borg und Edward Lawrenson, UK |
Goldener Leopard TOTEMS von Sarah Arnold, Frankreich |
Silberner Leopard SHIPWRECK von Morgan Knibbe, Niederlande |
Silberner Leopard PETIT HOMME von Jean-Guillaume Sonnier, Schweiz |
Nominierung von Locarno für die European Film Awards SHIPWRECK von Morgan Knibbe, Niederlande |
Preis "Action Light" ABSEITS DER AUTOBAHN von Rhona Mühlebach, Schweiz |
Preis "Film und Video Untertitelung" HOLE von Martin Edralin, Kanada |
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Besondere Erwähnung MUERTE BLANCA von Roberto Collío, Chile |
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PIAZZA GRANDE | |
Publikumspreis SCHWEIZER HELDEN von Peter Luisi, Schweiz |
Variety Piazza Grande Award MARIE HEURTIN von Jean-Pierre Améris, Frankreich |
Preis FIRESCI MULA SA KUNG ANO ANG NOON (From What Is Before) von Lav Diaz, Philippinen |
Preis der ökumenischen Jury DURAK (The Fool) von Yury Bykov, Russland |
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