Bericht zum 66. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi / Redaktionelle Beiträge / User-Beiträge / Home / 451°F - 451°F Film-Newsletter

RUBRIKEN

KINO

UNTERSTÜTZE UNS

Damit wir das Projekt 451° Filmportal aufrecht erhalten können, sind wir auf deine Spende angewiesen. Vielen Dank!

PARTNER

Bericht zum 66. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Bericht zum 66. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Einen noch kantigeren Kurs als seine Vorgänger fuhr der neue künstlerische Leiter Carlo Chatrian im Wettbewerb. Mit Albert Serras zweieinhalbstündigem Casanova-Dracula-Film "Historia de la meva mort" wurde dann auch ein sperriges Werk mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Erholen konnte man sich von solchen Kunstanstrengungen beim leichtgewichtigen Piazza-Programm.

Ausgesprochen vielfältig präsentierte sich der heurige Wettbewerb um den Goldenen Leoparden. Kein Film glich dem anderen, auch keine belanglos-biederen TV-Filmchen gab es zu sehen, dafür umso mehr Filme, die ihren Kunstwillen offen vor sich her trugen. - Nicht uninteressant, aber zäh und ermüdend konnte das auf die Dauer sein.

90 Minuten - 16 Einstellungen

So kommt der Rumäne Cornelio Porumboiu ("Police, Adjective") in seinem 90minütigen Film "When Evening Falls on Bucharest or Metabolism" mit 16, im Schnitt jeweils rund fünfeinhalbminütigen Einstellungen aus. Beinahe jede Szene besteht aus einer einzigen statischen Einstellung, Musik wird erst im Nachspann eingesetzt. Scheinbar ungefiltert schaut man so einem Filmregisseur bei den Gesprächen mit seiner Hauptdarstellerin über ihre Rolle zu. Quasidokumentarisch und auf jede dramatische Zuspitzung verzichtend ist die Inszenierung, aber gerade diesen Realitätscharakter stellt Porumoiu immer wieder zur Diskussion, fragt nach dem Wahrheitsgehalt von und Manipulation durch Bilder. Formal ist das von großer Konsequenz, verlangt vom Zuschauer aber auch Geduld.

Casanova meets Dracula

In weit größerem Masse gilt das noch für Albert Serras "Historia de la meva mort – Story of My Death“, den die vom philippinischen Regisseur Lav Diaz geleitete Jury mit dem Goldenen Leoparden auszeichnete. Schon die Pre-Title-Sequenz, in der man einer Gesellschaft in Kostümen des 18. Jahrhunderts minutenlang in einer statischen Einstellung beim Essen zusieht, stimmt auf das Erzähltempo der folgenden 148 Minuten ein. Erst spät wird man erfahren, dass es sich bei dem vornehmen Herrn, der in der ersten Hälfte Kirchenkritik übt, von der bevorstehenden Revolution spricht und aus Voltaire zitiert, aber auch minutenlang in einen Nachttopf scheisst, um Casanova handelt.

Auf diesen laut Insert in der Schweiz spielenden Teil, wird man mit abruptem Schnitt und wiederum einem Insert in die Karpaten versetzt, wo Casanova bald mit Dracula konfrontiert wird. Dem Aufbruch in die Rationalität, der am Beginn im Zentrum steht, wird damit ein Rückfall in tiefsten Aberglauben und das Archaische gegenübergestellt. - Grossartig ausgeleuchtet sind da zwar die tableauartigen Einstellungen teilweise, doch ist der Film von einer enervierenden Langsamkeit.

Radikal persönlicher Essayfilm

Ein höheres Tempo schlägt der Portugiese Joaquin Pinto in seinem Essayfilm "E agora? Lembre-me" an. Pinto, der seit 20 Jahren an HIV und Hepatitis C leidet, nimmt seine Behandlung mit noch nicht anerkannten Medikamenten zum Anlass, um sehr persönlich und radikal subjektiv in einem assoziativen Strom von Gedanken und Bildern über seine Krankheit und sein Leben, aber auch über die Krisen der Welt zu reflektieren.

Ausladend und reich an Denkanstössen ist der vom ständigen Voice-over des Regisseurs begleitete Film, aber mit 164 Minuten auch überlang. Nicht geschadet hätte es, wenn man speziell einige der zahlreichen Szenen vom vertrauten Umgang Pintos und seines Lebenspartners mit ihren Hunden herausgeschnitten hätte.

Handfestes Kino

Froh war man, wenn man zwischen solch sperrigen Werken auch hie und da auf handfestes Kino stiess. Solches bot Destin Cretton mit seinem zweiten Spielfilm "Short Term 12", der mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde. Wie der Kalifornier hier von der gut 20-jährigen Grace erzählt, die sich mit ein paar Kollegen im titelgebenden Lager um vernachlässigte Jugendliche kümmert, packt von der ersten bis zur letzten Minute. Schnelle Schnitte und eine nah geführte Kamera lassen den Zuschauer unmittelbar am Geschehen Anteil nehmen. Unverstellt ist der Blick und die Schilderung wirkt nicht zuletzt auch aufgrund der hervorragenden unverbrauchten jungen Schauspieler authentisch.

Einen starken Eindruck hinterliess auch Guillaume Bracs "Tonnere". Grosse atmosphärische Dichte und Stimmigkeit entwickelt die Geschichte eines Rockmusikers, seines Vaters und einer jungen Frau durch den genauen Blick, unaufgeregte Erzählweise und präzise Verankerung im winterlichen Tonnere, einer im Burgund gelegenen Kleinstadt. Nicht leicht nachvollziehbar sind allerdings die dramatischen Wendungen im Finale.

Schweizer Filme

Überraschend linear und nüchtern erzählt Thomas Imbach in seinem von Stefan Zweigs Biographie "Maria Stuart" inspirierten Kostümfilm "Mary, Queen of Scots" die Geschichte der schottischen Königin. Imbach verzichtet auf Modernismen und Brechungen, bietet - wohl schon aus finanziellen Gründen - keine Massenszenen, sondern fokussiert ganz auf der Titelfigur, die er als Frau zeichnet, die bedingungslos ihren Weg geht.

Einen klassischen Dokumentarfilm legte dagegen Yves Yersin mit "Tableau noir" vor. In begleitender Beobachtung schildert der 71-jährige Westschweizer den Alltag in einer einklassigen Grundschule im Neuenburger Jura. Yersin fokussiert ganz auf dem Unterricht, bietet einen Eindruck von der Vielfalt des Gelernten, zeigt, wie sich der Unterricht am Alltäglichen orientiert und wie die sechs- bis zwölfjährigen Schüler durch entdeckendes Lernen gefördert werden. Erst im Laufe des Films wird klar, dass die Schliessung der Schule droht, mit der "Tableau noir" endet. Zu einem Dokument wird der Film mit diesem Ende und macht gleichzeitig eindringlich bewusst, was mit dieser Schliessung verloren geht.

Auf der Piazza erlebten Lionel Baiers liebevolle Komödie "Les grandes ondes (á l´ouest)" sowie Jean-Stéphane Brons Dokumentarfilm "L´expérience Blocher" ihre Weltpremieren. Während Baier mit viel Ironie und Retro-Chick von einem Schweizer Radioteam erzählt, das 1974 in die portugiesische Nelkenrevolution gerät, versucht sich Bron dem rechtspopulistischen Christoph Blocher zu nähern, kann letztlich aber dem schon Bekannten kaum Neues hinzufügen. Spannend wird es vor allem dann, wenn Bron sich selbst ins Spiel bringt und über seine Rolle als Filmemacher reflektiert.

Das Piazzaprogramm: Unterhaltsam, aber keine grossen Filme

Die Spannbreite des Piazza-Programms reichte vom nur bedingt unterhaltsamen Action-Kracher "2 Guns", in dem sich Mark Wahlberg und Denzel Washington als Undercover-Agenten nicht nur gegen einen mexikanischen Drogenbaron, sondern vor allem gegen ihre eigenen Leute durchsetzen müssen, bis zu Pascal Plissons äußerst bescheidenem Dokumentarfilm "Sur le chemin de l´école". Plisson erzählt vom weiten und gefährlichen Schulweg von Kindern in Kenia, im Hohen Atlas, in Patagonien und in Indien, bewältigt aber leider das Thema in keinster Weise, bietet weder tiefere Einsichten noch Spannung, kommt seinen Protagonisten nie näher, sondern reiht hilflos Postkartenansichten der verschiedenen Regionen aneinander.

Zwei Stunden lang ganz gut unterhalten konnte man sich immerhin bei der Jennifer Aniston-Komödie "We´re the Millers", Charme versprühte die romantische britische Zeitreisekomödie "About Time", während der italienische Beitrag "La variabile umana" nicht über eine durchschnittliche Folge von "Tatort" hinauskam.

In düstere Welten entführten am späteren Abend Mikkel Nørgaard mit der routinierten Verfilmung von Jussi Adler-Olsens Bestseller "Erbarmen" ("The Keeper of Lost Causes"), bei der allerdings zwangsläufig die Vorlage arg verkürzt wurde, und Jeremy Saulniers kompakter Rachethriller "Blue Ruin", bei dem auch Splatter-Momente nicht zu kurz kamen.

Den Publikumspreis holte sich aber Louise Archambault mit "Gabrielle". Bewegend und feinfühlig, aber ohne Sentimentalitäten erzählt die Kanadierin von einer jungen Frau mit geistiger Behinderung, die ihre Liebe zu einem ebenfalls behinderten jungen Mann leben möchte. - Ein starkes Plädoyer für das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung.
(Walter Gasperi)

Preise des 66. Festival del film Locarno

Concorso internazionale  
Pardo d’oro HISTORIA DE LA MEVA MORT von Albert Serra, Spanien/Frankreich
Premio speciale della giuria E AGORA? LEMBRA-ME von Joaquim Pinto, Portugal
Pardo per la miglior regia HONG SANGSOO für U RI SUNHI (Our Sunhi), Südkorea
Pardo per la miglior interpretazione femminile BRIE LARSON für SHORT TERM 12 von Destin Cretton, USA
Pardo per la miglior interpretazione maschile FERNANDO BACILIO für EL MUDO von Daniel Vega und Diego Vega, Perù/Frankreich/Mexiko
Besondere Erwähnungen SHORT TERM 12 von Destin Cretton, USA
TABLEAU NOIR von Yves Yersin, Schweiz
   
Concorso Cineasti del presente  
Pardo d’oro Cineasti del presente MANAKAMANA von Stephanie Spray und Pacho Velez, Nepal/USA
Premio per il miglior regista emergente
COSTA DA MORTE von Lois Patiño, Spanien
Premio speciale della giuria MOUTON von Gilles Deroo und Marianne Pistone, Frankreich
Besondere Erwähnung SAI NAM TID SHOER (By the River) von Nontawat Numbenchapol, Thailand
   
Opera prima  
Pardo per la migliore opera prima MOUTON von Gilles Deroo und Marianne Pistone, Frankreich
Besondere Erwähnung MANAKAMANA von Stephanie Spray und Pacho Velez, Nepal/USA
   
Pardi di domani  
Concorso internazionale  
Pardino d’oro per il miglior cortometraggio internazionale LA STRADA DI RAFFAEL von Alessandro Falco, Italien/Spanien
Pardino d’argento Swiss Life per il Concorso internazionale ZIMA von Cristina Picchi, Russland
Nominierung von Locarno für die European Film Awards - Premio Pianifica ZIMA von Cristina Picchi, Russland
Premio Film und Video Untertitelung TADPOLES von Ivan Tan, Singapore
Besondere Erwähnung ENDORPHIN von Reza Gamini, Iran
   
Concorso nazionale  
Pardino d’oro ‘A IUCATA von Michele Pennetta, Schweiz
Pardino d’argento VIGIA von Marcel Barelli, Schweiz/Frankreich
Premio Action Light LA FILLE AUX FEUILLES von Marina Rosset, Schweiz
   
Preis der Ökumenischen Jury SHORT TERM 12 von Destin Cretton, USA
   
Prix du Public UBS GABRIELLE von Louise Archambault, Kanada
   
Variety Piazza Grande Award 2 GUNS von Baltasar Kormákur, USA