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Bericht zum 65. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Bericht zum 65. Internationalen Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi

Ansprechendes, aber nicht glanzvolles Piazza-Programm

Grosse Vielfalt kennzeichnete sowohl das Piazza-Programm als auch den Wettbewerb des 65. Filmfestivals von Locarno. Mehr Aufsehen als die Filme erregten dabei aber vielfach die zahlreichen Stars, die der künstlerische Leiter Olivier Père an den Lago Maggiore locken konnte. Der Goldene Leopard ging überraschend an Jean-Claude Brisseaus „La fille de nulle part“.

Jeden Abend präsentierte Olivier Père einen anderen Star auf der Piazza Grande, Ehrenpreise wurden zuhauf vergeben, schier zahllos waren die Hommagen. Harry Belafonte wurde ebenso geehrt wie Alain Delon, Johnnie To, Charlotte Rampling, Gael García Bernal oder Leos Carax. Auch Kylie Minogue und Ornella Muti wurden auf der Bühne der prächtigen Freiluftarena begrüsst. In den Hintergrund rückten bei dieser Starparade teilweise fast die Filme.

Für Jeden etwas bot das Piazza-Programm. Eröffnet wurde mit dem lauten, aber enttäuschenden britischen Thriller „The Sweeney“, in dessen Mittelpunkt die Arbeit einer Spezialeinheit der britischen Polizei steht. Statt zwingend eine Handlung zu entwickeln und den Figuren Profil zu verleihen beschränkt sich Nick Love darauf Action-Szenen aneinander zu reihen.

Mehr zu gefallen wusste da schon Cate Shortlands „Lore“, der mit dem „Prix du public“ ausgezeichnet wurde. Einfühlsam erzählt die Australierin von der etwa 15-jährigen Deutschen Lore, die am Ende des Zweiten Weltkriegs allein mit ihren kleineren Geschwistern quer durch Deutschland zu ihrer Oma an die Nordsee zu gelangen versucht. Mit der äusseren Reise, die kaum durch Trümmerlandschaften als vielmehr durch leuchtend grüne Wälder führt, lässt Shortland geschickt eine innere Wandlung der zunächst immer noch vom Nationalsozialismus überzeugten Lore korrespondieren. Denn auf den Verlust von Eltern und materiellem Besitz folgt langsam das Zerbröckeln des Weltbilds. Am Ende wird sie in Opposition zur immer noch an der alten Ordnung festhaltenden Oma treten. Getragen wird der atmosphärisch starke Film von grossartigen Kinderdarstellern, aus denen Saskia Rosendahl in der Titelrolle herausragt. Für sie könnte dieser Film wie vor Jahren für Abbie Cornish ihre Hauptrolle in Shortlands „Somersault“ der Start zu einer grossen Karriere bedeuten.

Sechs Jahre nach ihrem Erfolg mit „Little Miss Sunshine“ verstehen Jonathan Dayton und Valerie Faris auch mit ihrer neuen Komödie „Ruby Sparks“ blendend zu unterhalten. In Anlehnung an den antiken Pygmalion-Mythos erzählen sie von einem Schriftsteller, dessen Romanfigur plötzlich lebendig wird. Viel Kapital schlagen Dayton/Faris aus diesem Grundgedanken, überzeugen aber auch durch schwungvoll-unverkrampfte Inszenierung und genauen Blick für Situationen und die von einem lustvoll aufspielenden Ensemble gespielten Figuren.

Einen ganz starken Eindruck hinterliess auch „Quelques heures de printemps“ von Stéphane Brizé. Wie in „Mademoiselle Chambon“ erzählt Brizé in langen Einstellungen und überlässt den Schauspielern den Raum. Erst langsam, dann aber umso intensiver schleichen sich so die Emotionen in dieses tief bewegende Drama um die schwierige Beziehung zwischen einer todkranken Frau und ihrem knapp 50-jährigen Sohn.

Gegenpol zu diesem leisen Film war Michael Steiners „Das Missen Massaker“. Lustvoll zieht Steiner nicht nur Schönheitswettbewerbe durch den Kakao, sondern parodiert auch gekonnt Klassiker des Horrorfilms. Zu verfolgen, wie hier mit Entsetzen Scherz getrieben wird, kann durchaus Vergnügen bereiten.

Vielfältiger Wettbewerb

Ausgesprochen vielfältig präsentierte sich heuer der Wettbewerb, in dem 19 Filme um den Goldenen Leoparden konkurrierten. Mehrere Beiträge konnte man sich als Preisträger vorstellen, dass die Jury um den thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul sich für Jean-Claude Brisseaus „La fille de nulle part“ entschied, überraschte dann aber doch. Vor allem ist dieser Film nämlich eine Selbstinszenierung Brisseaus, der in der Hauptrolle als Mathematikprofessor eine junge Frau bei sich aufnimmt. Von Ironie durchzogen sind zwar ihre Diskussionen über Leben, Wissenschaft und Religion, filmisch aufregend ist das beinahe ausschließlich in der Wohnung des Professors spielende Kammerspiel aber kaum, auch wenn hie und da auftauchende Geister, deren Existenz der Professor partout leugnet, für ein paar Lacher sorgen.

Einen wesentlich stärkeren Eindruck hinterliess Tizza Covis und Rainer Frimmels „Der Glanz des Tages“. Ganz selbstverständlich mischen die beiden Österreicher Dokumentarisches mit Fiktivem, wenn sie den realen Theaterschauspieler Philipp Hochmair und den realen Zirkusartisten Walter Saabel zusammenführen. Keine Kinogeschichte wird entwickelt, sondern allein aus der Begegnung, den Gesprächen und Situationen werden die Porträts zweier völlig unterschiedlicher Menschen gezeichnet und damit über Kunst und Leben, Sein und Schein reflektiert.

Um Kunst und Leben kreist auch Jem Cohen „Museum Hours“. Mit viel Feingefühl verwebt der Amerikaner in seinem in Wien gedrehten Film die Begegnung einer Kanadierin mit einem Wiener Museumswärter mit Beobachtungen im Kunsthistorischen Museum und auf 16mm-Film gedrehten Stadtansichten.

Das dokumentarische Moment, das in diesen beiden Filmen eine grosse Rolle spielt, fand sich auch in überraschend vielen weiteren Wettbewerbsfilmen. Peter Mettler reflektiert in seinem bildmächtigen und weltumspannenden Essayfilm „The End of Time“ über die Zeit und ihre Wahrnehmung, während Lucien Castaing-Taylor und Vérena Paravel in „Leviathan“ den Zuschauer auf einen Fischkutter mitnehmen, dabei aber immer so nah an den Menschen, Fischen und Maschinen sind, dass man nie einen Überblick gewinnt. Hineingezogen wird man in diesen wort- und atemlosen Strom von Bild- und Tonfetzen, doch auf die Dauer von 90 Minuten wirkt dieses zum abstrakten tendierende Bildgewitter auch redundant. Spannend ist „Leviathan“ allerdings nicht nur als Experiment, sondern auch in der Bandbreite und den Möglichkeiten des Kinos, die hier im Vergleich mit konventionell erzählten Geschichten sichtbar wird.
(Walter Gasperi)

Alle Preise und GewinnerInnen des 65. Filmfestival Locarno

Concorso internazionale Concorso Cineasti del presente
Pardo d’oro
LA FILLE DE NULLE PART by Jean-Claude Brisseau, France
Pardo d’oro
INORI by Pedro González-Rubio, Japan
Premio speciale della giuria
SOMEBODY UP THERE LIKES ME by Bob Byington, United States
Premio per il miglior regista emergente
JOEL POTRYKUS for the film APE, United States
Pardo per la migliore regia
YING LIANG for the film WO HAI YOU HUA YAO SHUO (When Night Falls), South Korea/China
Premio speciale della giuria
NOT IN TEL AVIV by Nony Geffen, Israel
Pardo per la miglior interpretazione femminile
AN NAI for the film WO HAI YOU HUA YAO SHUO (When Night Falls) by Ying Liang, South Korea/China
Special Mention
TECTONICS by Peter Bo Rappmund, United States
Pardo per la miglior interpretazione maschile
WALTER SAABEL for the film DER GLANZ DES TAGES (The Shine of Day) by Tizza Covi and Rainer Frimmel, Austria
Opera Prima
Pardo per la migliore opera prima
JI YI WANG ZHE WO (Memories Look At Me) by SONG Fang, China
Special mention
To the extraordinary character CANDY from the film A ULTIMA VEZ QUE VI MACAU due to her powerful presence through absence which resonated for the Jury as representing the immense courage of Portuguese cinema in times when the failures of government and social systems threaten the cinematic arts worldwide.
Special Mention
APE by Joel Potrykus, United States
   
Pardi di domani  
Concorso internazionale Concorso nazionale
Pardino d’oro
THE MASS OF MEN by Gabriel Gauchet, United Kingdom
Pardino d’oro
RADIO-ACTIF (Radio-active) by Nathan Hofstetter, Switzerland
Pardino d’argento
YADERNI WYDHODY (Nuclear Waste) by Myroslav Slaboshpytskiy, Ukraine
Pardino d’argento
L’AMOUR BÈGUE (Stammering Love) by Jan Czarlewski, Switzerland
Special Mention
LOS RETRATOS (Portraits) by Iván D. Gaona, Colombia
Premio Action Light for the Best Swiss Newcomer
IL VULCANO (The Volcano) by Alice Riva, Switzerland
Locarno short film nominee for the European Film Awards
BACK OF BEYOND by Michael Lennox, United Kingdom
 
The Film und Video Untertitelung Prize
O QUE ARDE CURA (As the Flames Rose) ba João Rui Guerra da Mata, Portugal
 
   
Piazza Grande  
Prix du Public
LORE by Cate Shortland, Germany/Australia/ United Kingdom
 
Variety Piazza Grande Award
CAMILLE REDOUBLE by Noémie Lvovsky, France