Bericht über das 60. Filmfestival von San Sebastian. Von Geri Krebs
Hollywood, Schneewittchen und die Finanzkrise
Mit der Preisverleihung und der Europapremiere von “Quartet”, der ersten Regiearbeit von Dustin Hoffman, ging am Samstagabend die 60. Ausgabe des Filmfestivals von San Sebastián zu Ende. Es war ein überreicher Jahrgang mit viel Staraufgebot, einem Streiktag und diskutablen Juryentscheiden.
Es sei eine Ehre für ihn, einen der grössten Schauspieler in der Geschichte des Kinos auszeichnen zu dürfen, erklärte Ricardo Darín, Argentiniens Starschauspieler (“El secreto de sus ojos”) und Mitglied der internationalen Jury in San Sebastián, als er am Samstagabend Dustin Hoffman den “Premio Donostia” überreichte.
Gleich fünf Mal war dieser Preis für ein Lebenswerk in den vergangenen zehn Festivaltagen vergeben worden, die andern vier Ausgezeichneten waren Ewan McGregor, Tommy Lee Jones, John Travolta und Oliver Stone - wobei letztere beide in der gleichen Woche auch am Zurich Film Festival ähnliche Preise in Empfang nehmen konnten. Bei seinem umjubelten Auftritt erklärte der für seine 75 Jahre unglaublich jugendlich wirkende Hoffman, er selber sei zwar schon fast so alt wie der Tonfilm, doch er versuche einfach nach dem Motto zu leben: Fange nicht an zu sterben, bevor du wirklich stirbst.
Hoffmans Debút
Dustin Hoffman war auch Autor des Abschlussfilms, “Quartet”, einem Feelgood-Movie um eine Luxusresidenz für pensionierte Opernsänger und -sängerinnen im ländlichen England. Vergleichbar mit dem französischen Film “Et si on vivait tous ensemble?” plädiert auch “Quartet” mit viel Überschwang für Aktivität und Solidarität in den letzten Lebensjahren, und man darf diesem Film, der Anfang nächsten Jahres auch in die Schweizer Kinos kommt, schon jetzt einen grossen Erfolg prophezeien. Das Festival von San Sebastián hat eine gute Nase für erfolgsträchtige Abschlussfilme, denn letztes Jahr hatte hier “Intouchables” seine internationale Premiere erlebt.
Bitterböse Satire auf die Finanzwelt
Zwei Tage vor Dustin Hoffmans Auftritt hatte es in San Sebastián ähnlich grossen Jubel für einen anderen grossen alten Meister und seinen neuen Film gegeben. Costa Gavras (79) stellte im Wettbewerb “Le capital” vor, eine so bitterböse wie temporeiche Satire auf die Mechanismen der internationalen Finanzmärkte. Im Zentrum des Films steht ein ambitionierter Manager einer französischen Grossbank (grossartig gespielt vom französischen-marokkanischen Komiker Gad Elmaleh), der auf dem Weg an die Spitze versucht, sich seiner Konkurrenten zu entledigen. Dabei verfährt er nach einem Motto, das einst Mao Zedong während der Kulturrevolution angewandt hatte: “Schalte deine Rivalen aus, indem du die Basis mobilisierst”. Ein Banker sei wie ein neuer Robin Hood, er raube die Armen aus und gebe es den Reichen, hiess es an einer anderen Stelle in “Le capital”, und Sarkasmen dieser Art lösten starken Szenenapplaus noch während der Filmvorführung aus.
„Schneewittchen“ als Stummfilm
Die siebenköpfige internationale Jury , die von der französischen Produzentin Christine Vachon präsidiert wurde, berücksichtigte “Le capital” nicht, was zusammen mit der “Silbernen Muschel” für “El muerto y ser feliz” , einem so absurden wie banalen Roadmovie des Spaniers Javier Rebollo, zu den schwer zu verstehenden Juryentscheiden gehört. Die anderen Preise dagegen sind durchaus gerechtfertigt, allen voran die gleich zweifache Auszeichnung des bezaubernden spanischen Films “Blancanieves”, der den Spezialpreis der Jury und eine “Silberne Muschel” für die beste Hauptdarstellerin, die junge Macarena García, erhielt. "Blancanieves" ist der Zweitling des 51-jährigen Regisseurs Pablo Berger („Torremolinos 1973“, sein skurriler Erstling um einen Heimporno-Produzenten, lief 2006 in Schweizer Kinos), der hier Schneewittchen und noch ein paar weitere Märchen der Gebrüder Grimm in Schwarz-Weiss ins Spanien der 1920er-Jahre verpflanzt. Die sieben Zwerge sind kleine Toreros, die für bizarre Unterhaltung auf Volksfesten sorgen und Schneewittchen selbst wird zur erfolgreichen Stierkämpferin.
Acht Jahre lang arbeitete Berger an seinem ungewöhnlichen Projekt, denn "Blancanieves" ist ein Stummfilm mit Zwischentiteln – und natürlich gibt es Anklänge an „The Artist“. Doch im Gegensatz zu diesem, bemüht Berger sich nicht um Stummfilmästhetik, sondern er erlegt sich hinsichtlich technischer Möglichkeiten keine Beschränkungen auf und er zitiert munter aus der Filmgeschichte. Als fröhlich drauflosfabulierender, vor Einfällen nur so sprühender Film hat „Blancanieves“ die Preise verdient, und es bleibt zu hoffen, dass auch ein Schweizer Verleiher auf dieses filmische Juwel aufmerksam wird.
Drastische Sparmassnahmen und Generalstreik
Das spanische Kino wurde gleich auch noch ein drittes Mal von der Jury berücksichtigt, indem Fernando Trueba, Oscargewinner von 1993 (“Belle Epoque”), für seine makellos schöne – ebenfalls schwarz-weisse – Kunstreflexion “El artista y la modelo” mit dem Preis als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. Auf ein spanisches Kino, das die Welt braucht, bezog sich am Abschlussabend dann auch François Ozon, Gewinner der “Goldenen Muschel” für seinen – auch am Zurich Film Festival gezeigten – “Dans la maison”, ein faszinierendes Verwirrspiel um einen Gymnasiallehrer (Fabrice Luchini) und seinen Lieblingsschüler. In seiner kurzen Dankesrede sagte der Regisseur: “In Zeiten der Krise die Kultur anzugreifen, ist eine schlechte Idee, denn so wird man die Krise nie überwinden. Mein Film ‘Dans la maison’ handelt von der Liebe zum Kino und von der Notwendigkeit des Kinos, und die Welt braucht auch spanisches Kino”. Ozon spielte damit auf die drastischen Kürzungsmassnahmen der aktuellen spanischen Regierung an, die gerade auch im Filmbereich sehr einschneidend sind. Die jetzt ausgezeichneten Filme wurden schliesslich alle noch vor den Zeiten der jetzigen Regierung finanziert – die Folgen der ganzen Sparmassnahmen wird man wohl erst in den nächsten Jahren sehen. Wie drastisch die Situation ist, hatte sich schliesslich auch mitten im Festival gezeigt, als am 26. September ein für das Baskenland ausgerufener Generalstreik auch das Festival weitgehend lahm legte. Bereits vor Festivalbeginn hatte sich die Festivalleitung mit dem Streik solidarisisert und angekündigt, an diesem Tag nur ein Minimalprogramm anzubieten – ein für ein grosses internationales Festival der Kategorie A beispielloser Schritt.
(Geri Krebs)
|