71. Locarno Festival: Schlussbericht und Preise. Von Walter Gasperi
In seinem letzten Jahr als künstlerischer Leiter präsentierte Carlo Chatrian einen starken Wettbewerb um den Goldenen Leoparden. Nicht überzeugen konnte dagegen das Piazza-Programm.
Im Gegensatz zu vergangenen Jahren bot der Wettbewerb kaum sperriges Kunstkino, traditionelles Erzählkino dominierte. Der Vielfalt tat dies keinen Abbruch, vor allem die zahlreichen starken Frauenfiguren setzten Akzente, im Zentrum des Siegerfilms standen aber dann doch wieder Männer.
Goldener Leopard für „A Land Imagined“
Den Goldenen Leoparden vergab die vom chinesischen Regisseur Jia Zhang-ke geleitete Jury mit „A Land Imagined“ an einen Film, in dem der Singapurer Yeo Siew Hua klassisches Genrekino mit Gesellschaftskritik mischt. Atmosphärisch dicht beschwört Yeo mit gekonntem Spiel mit Licht und Farben die melancholische Stimmung der nächtlichen südostasiatischen Metropole. Auf den Spuren eines Film noir bewegt er sich, wenn ein einsamer Polizist einen chinesischen Arbeiter suchen soll, der von einer Großbaustelle verschwunden ist, auf der Land durch Aufschüttung des Meers gewonnen wird.
Zur sozialrealistischen Studie der Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung ausländischer Arbeiter wird „A Land Imagined“, wenn – nicht in einer Rückblende – sondern vielmehr in einem Traum des Polizisten, der seit seiner Kindheit Ereignisse in Träumen voraussieht, die Geschichte des verschwundenen Chinesen aufgerollt wird, ehe mit einem Cybercafe als Schauplatz auch noch Vereinsamung in der Großstadt und eine verhaltene Liebesgeschichte hereinspielen.
Etwas viel packt Yeo zweifellos hinein und unausgeglichen wirkt der Film in dieser Vielfalt, doch mit seiner traumhaft fliessenden Erzählweise, seiner starken Bildsprache und den markanten Figuren fasziniert dieser Mix, dessen Titel sowohl auf die Träume der Figuren als auch auf das künstlich gewonnene Land, das quasi nur ein Traum ist, anspielt.
Spezialpreis der Jury für „M“
Mehr der Inhalt als die formale Gestaltung gaben wohl bei der Vergabe des Spezialpreises der Jury an Yolande Zaubermans Dokumentarfilm „M“ den Ausschlag. Die Französin spürt darin mit dem Sänger Menahem Lang, der mit 20 Jahren aus dem Jerusalemer Viertel Bnei Barak wegzog, dem Kindesmissbrauch und dem gestörten Verhältnis zur Sexualität in diesem Zentrum der ultraorthodoxen jüdischen Haredim nach.
Anstrengend ist dieser Film in seiner Beschränkung auf sprechende Köpfe und mit seinen teilweise wohl mit versteckter Kamera aufgenommenen Bildern auch visuell wenig begeisternd, deckt aber in den Begegnungen Menahems mit anderen männlichen Bewohnern dieses Viertels auf, dass sein mehrfacher Missbrauch in dieser Gesellschaft keinesfalls ein Einzelfall, sondern dies vielmehr weit verbreitet ist. Publik gemacht und angezeigt wird dies aber kaum, sondern vielmehr entwickelt sich ein Teufelskreis, bei dem die Vergewaltigten selbst wieder zu Vergewaltigern werden.
Darstellerpreise für Andra Guți und KI Joobong
Als beste Darstellerin wurde überraschend die junge Rumänin Andra Guți ausgezeichnet, die in Radu Munteans „Alice T.“ einen Teenager spielt, der ständig im Zentrum stehen will und Mutter ebenso wie Freunde und Bekannte hemmungslos manipuliert. Nicht nur fremd bleibt einem dieses Mädchen aufgrund von Munteans kühlem Blick und seinem Verzicht auf Erklärungen, sondern nervt auch zunehmend.
Hätte es für diesen Preis angesichts der zahlreichen starken und stark gespielten Frauenfiguren durchaus auch Alternativen gegeben, ist der Preis für den Koreaner KI Joobong für seine Verkörperung eines alternden Dichters in Hong Sangsoos „Gangbyun Hotel“ nachvollziehbar. Wunderbar zurückhaltend spielt KI, der Film freilich wird als typischer Hong Sangsoo-Film nur Fans dieses südkoreanischen Regisseurs begeistern. Beeindruckend evozieren die sorgfältig kadrierten schwarzweissen Winterbilder und die unaufgeregte Erzählweise zwar eine Atmosphäre der sanften Melancholie, doch wie gewohnt bei Hong passiert fast nichts. Der Film konzentriert sich ganz auf die Gespräche des Dichters mit seinen beiden ihm entfremdeten Söhne in der Lobby des Hotels sowie auf eine junge, unter einer gescheiterten Beziehung leidende Frau, die in ihrem Hotelzimmer von einer Freundin besucht wird.
Regiepreis für Dominga Sotomayor
Eher überraschend geht auch der Regiepreis an die Chilenin Dominga Sotomayor. Im schweifenden Blick auf das geradezu lethargische Leben in einer Kommune im ländlichen Chile von 1990 hinterließ ihr Drama „Tarde para morir joven“ kaum nachhaltigen Eindruck.
Preis der Ökumenischen Jury und der Fipresci für „Sibel“
Von der offiziellen Jury unberücksichtigt blieb zwar Çağla Zencircis und Guillaume Giovanettis „Sibel“, wurde dafür aber sowohl von der Ökumenischen Jury als auch von der Fipresci, der Jury des Verbands der Filmkritiker, zum besten Film gekürt. Hautnah folgt das französisch-türkische Regie-Duo darin der von Damla Sönmez intensiv gespielten stummen 25-jährigen Protagonistin bei ihren Streifzügen durch die Wälder ihres im Hinterland des Schwarzen Meers gelegenen Dorfs ebenso wie bei der Feldarbeit mit den Frauen.
Aufgrund ihres Handicaps ist Sibel im Dorf eine Aussenseiterin, verständigen kann sie sich nur mittels einer Pfeifsprache, die nicht nur Vater und Schwester, sondern auch die Dorfbewohner verstehen. Als sie im Wald auf einen geflohenen Wehrdienstverweigerer stösst, verheimlicht sie dies. Während sich diese Außenseiter näherkommen, entfernt sie sich damit immer mehr nicht nur von der Dorfgesellschaft, sondern auch von ihrem Vater.
In zupackendem Stil, der den Zuschauer direkt ins Geschehen hineinzieht, zeichnen Zencirci/Giovanetti das Bild nicht nur einer dörflichen türkischen Gesellschaft, in der Tradition und Ehre über alles gehen, sondern auch das Porträt einer jungen Frau, die aus Menschlichkeit sich über diese rigiden Regeln hinwegsetzt. Gleichzeitig ist das aber auch eine deutliche Kritik am Erdogan-Regime, in dem die Propaganda jeden Wehrdienstverweigerer zum Terroristen erklärt und Feindbilder aufbaut, um das Volk zu lenken.
Perlen ohne Preise: „Diane“, „Ray & Liz“, „Yara“, „A Family Tour“
Einige starke Filme gingen bei der Preisverleihung leer aus. Immerhin mit einer Lobenden Erwähnung durch die Ökumenische Jury gewürdigt wurde (zusammen mit „A Land Imagined“) Kent James´ Spielfilmdebüt „Diane“. Mit einer überragenden Mary Kay Place in der Hauptrolle zeichnet der Amerikaner darin im Stil des unabhängigen sozialrealistischen US-Kinos ein dichtes Porträt einer Frau, die sich ganz für andere aufopfert.
Schonungslos blickt dagegen der britische Fotograf Richard Billingham in seinem Langfilmdebüt „Ray & Liz“ auf seine Kindheit. Mit bestechender Detailtreue schildert er den Alltag in einer verdreckten Birminghamer Wohnung der 1980er Jahre und die völlige Vernachlässigung der Kinder durch die apathischen Eltern. – Kein schöner, aber ein dichter Blick auf eine schier unglaublich trostlose Lebenswelt.
In eine zumindest scheinbar heile Welt entführt dagegen der irakisch-französische Regisseur Abbas Fahdel. In seinem zweiten Spielfilm „Yara“ erzählt er vor der malerischen Kulisse eines abgelegenen libanesischen Bergtals, in dem die Moderne und alle Konflikte fern scheinen, in lichtdurchfluteten und sommerlich warme Farben getauchten Bildern in meditativem Rhythmus von der zarten, langsam erwachenden ersten Liebe eines Teenagers.
Einfühlsam und subtil zeigt dagegen der Chinese Liang Ying in „A Family Tour“ nach persönlichen Erfahrungen, wie das Politische das persönliche Leben beeinflusst. Im Mittelpunkt steht eine chinesische Regisseurin, die seit ihrem letzten Film mit ihrer Familie im Exil in Hongkong leben muss. Ein Treffen mit ihrer alten Mutter ist nur heimlich in Taiwan möglich.
Klar und scharf kritisiert Ying in den Gesprächen zwischen Mutter und Tochter das Regime, gleichzeitig bleibt der Film durch seine langen distanzierten und statischen Einstellungen aber leise und zurückhaltend in der Erzählweise. Gerade durch diese Diskrepanz entwickelt „A Family Tour“ aber seine bewegende Kraft.
“La Flor” – 14-stündiges Spiel mit dem Genrekino
Für das grösste mediale Interesse sorgte im Vorfeld des Festivals die Programmierung von Mariano Llinas 14-stündigem „La Flor“. Im Grunde entpuppt sich die Länge aber als Etikettenschwindel, denn abgesehen von den vier Hauptdarstellerinnen, die immer wieder in andere Rollen schlüpfen, verbindet nichts die sechs Episoden. Völlig unabhängig voneinander werden eine B-Horror-Geschichte, dann retrospektiv in schwarzweiss eine gescheiterte Liebesgeschichte, in die eine Krimihandlung eingebaut wird, und anschliessend eine Spionagestory entwickelt.
Lustvoll spielt Llinas mit den Genremustern, erzählt bewusst die Geschichten nie zu Ende und lässt speziell bei der Spionage-Episode seiner Fabulierfreude freien Lauf und baut ständig neue Geschichten ein, sodass dieser Abschnitt allein schon sechs Stunden in Anspruch nimmt.
Kurz gehalten sind dagegen nach der vierten Episode, in der sich Llinas selbstreflexiv mit dem Filmemachen beschäftigt, die beiden letzten Abschnitte. Nur gerade mal 70 Minuten benötigt der Argentinier hier, um zunächst in Schwarzweiss und stumm Jean Renoirs 1936 gedrehten „Partie de campagne“ in der argentinischen Pampa neu zu inszenieren und abschließend in bewusst auf alt getrimmtem Material mit verdreckten und zerkratzten Bildern sowie mit langen Zwischentiteln von der Flucht von vier Frauen durch eine Wüste zu erzählen. – Lang wird dann freilich der Abspann, der mit über 30 Minuten der längste der Filmgeschichte sein könnte.
Neues von Imbach und Oberli
Nicht überzeugen konnten die Schweizer Filme. Hautnah klebt die Kamera von Thomas Imbach in „Glaubenberg“, der im Wettbewerb lief, zwar an der von Zsofia Körös gespielten 16-jährigen Protagonistin, doch ihre obsessive Liebe zu ihrem zwei Jahre älteren Bruder wird dennoch nicht spürbar noch werden die Reaktionen (oder Nicht-Reaktionen) der Umwelt nachvollziehbar.
Bei Bettina Oberlis französischsprachigem Debüt „Le vent tourne“, das auf der Piazza seine Weltpremiere feierte, wirkt dagegen das Drehbuch zu wenig ausgearbeitet. Flott erzählt die „Herbstzeitlosen“-Regisseurin zwar in knappen 88 Minuten eine Dreiecksgeschichte um ein Paar, das auf alternative Landwirtschaft setzt, und einen Ingenieur, der ein Windrad errichten soll, doch zu holzschnittartig sind Figuren und Problemfelder gezeichnet, als dass der Film wirklich emotionale Kraft entwickeln könnte.
Bescheidenes Piazzaprogramm
So stark sich der Wettbewerb präsentierte, so blass blieb das Piazzaprogramm. Echte Ärgernisse blieben zwar aus, doch schon der Eröffnungsfilm „Les beaux esprits“, in dem Vianney Lebasque nach einer wahren Begebenheit von einer Basketballteam geistig Behinderter erzählt, in das gesunde Sportler geschmuggelt werden, um bei den Paralympics zu reüssieren, kam über ein harmloses und nur mässig unterhaltsames Feelgood-Movie nicht hinaus. Sandra Nettelbeck verzettelte sich in ihrem Ensemblefilm „Was uns nicht umbringt“ in zu vielen Episoden und kaum mehr als bescheidene Fernsehkost bot die italienisch-schweizerische Komödie „Un nemico che ti vuole bene“, in der ein Killer als Dank für eine Hilfeleistung unbedingt den Feind eines Professors, der glaubt keine Feinde zu haben, beseitigen will.
Da diese und andere Weltpremieren enttäuschten, mussten doch wieder schon in Cannes gefeierte Filme die Kohlen aus dem Feuer holen: Einzig Spike Lees „BlacKkKlansman“, der auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde, und „Pájaros de Verano – Songs of the Birds“, der neue Film der „El Abrazo de la Serpiente“-Macher Ciro Guerra und Cristina Gallego, sorgten auf der Piazza für Höhepunkte. Während die Galionsfigur des Black American Cinema in seinem satirischen Thriller ebenso bissig wie unterhaltsam mit dem Rassismus abrechnet und den Bogen souverän von der Vergangenheit zur Gegenwart spannt, zeichnen Guerra/Gallego in ihrem Gangster- und Familienepos packend die Anfänge des kolumbianischen Drogenhandels und die damit verbundene wachsende Gier und Gewalt sowie der Untergang indigener Traditionen nach.
(Walter Gasperi)
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