65. Filmfestival von Cannes – Schlussbericht von Doris Senn
Die Goldene Palme des 65. Filmfestivals von Cannes geht – favorisiert und doch überraschend – an Michael Haneke für «Amour». Daneben wurde der Altmeister Ken Loach für seine Komödie «Angel's Share» ausgezeichnet, während die Jurypreise für den weitgehend misslungenen «Reality» von Matteo Garrone sowie für das sperrig-experimentelle Werk des Mexikaners Carlos Reygadas «Post tenebras lux» eher für Verwunderung sorgten.
Auf dem Poster des diesjährigen Cannes bläst eine blutjunge Marilyn Monroe die Kerze auf dem flockigen Geburtstagskuchen aus: Die 65. Ausgabe schliesst die Tore mit einem durchzogenen Fazit. Der Wettbewerb war ein abwechslungsreicher, durchaus hochstehender Jahrgang, wenn auch trotz allem nicht vor Enttäuschungen und Banalitäten gefeit. Das 65. Festival von Cannes war auch ein Festival, das geprägt war von anhaltendem Regen und einer neuen «Filmnormdauer», dehnten sich die Werke doch in der Regel über (mindestens) rund zwei Stunden.
Zweite Goldene Palme für Michael Haneke
Die neunköpfige Jury unter der Präsidentschaft des italienischen Filmemachers Nanni Moretti entschied sich, dem österreichischen Regisseur nach «Das weisse Band» (2009) für sein brisantes Drama um das Älterwerden ein zweites Mal die Goldene Palme zu verleihen. Damit geehrt werden nicht zuletzt auch die Leistungen der altgedienten grossen Schauspieler Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva. Der 82-jährige Trintignant spielt darin Georges, der sich fürsorglich um seine zunehmend demente Frau Anne kümmert, die von der 85-jährigen Emmanuelle Riva dargestellt wird, die ihre allererste Kinorolle in Alain Resnais Kultfilm «Hiroshima mon amour» 1959 verkörperte. Hanekes «Amour» zeigt insbesondere den Zerfall von Annes Persönlichkeit durch die Krankheit – und die zunehmende Überforderung seitens George, der ihr das Versprechen gab, sie bis in den Tod zu begleiten.
Der Grosse Preis der Jury an Garrone – der «kleine» an Loach
Ken Loach erhielt für seine überraschend leichtfüssige Komödie «Angel's Share» den Preis der Jury – seine bislang dritte Auszeichnung seitens des renommierten Filmfestivals. Darin erzählt er ein Märchen über eine Gruppe Kleinkrimineller, die statt Gefängnis eine Anzahl Stunden im Dienst der Allgemeinheit verrichten müssen. Dank Harry, ihrem Betreuer, lernen Robbie, Albert, Mo und Rhino das Whisky-Degustieren kennen und entschliessen sich in der Folge zum kleinen grossen Coup, der ihr Leben verändern wird. Wie so oft arbeitete Loach teils mit Laien zusammen und vertraute bei der Inszenierung weitgehend auf Improvisation. So wurde etwa der zu Gewalttätigkeit neigende Robbie vom erstmals vor der Kamera stehenden Paul Brannigan verkörpert, der in der Realität auf ein seiner Figur sehr ähnliches Leben zurückblickt; Albert wird gespielt von Gary Maitland, der im wirklichen Leben bei der städtischen Müllabfuhr beschäftigt ist, die junge Schauspielerin Jasmin Riggins wiederum arbeitete zum ersten Mal mit Loach, während William Ruane (Rhino) schon mehrmals in Loachs Filmen zu sehen war. Mit «The Angel's Share» – zu Deutsch «der Anteil des Engels»: ein Ausdruck aus dem Whisky-Jargon, der denjenigen Teil der kostbaren Flüssigkeit bezeichnet, der während der langen Lagerung unweigerlich verdunstet – zeichnet Loach ein gelungenes witziges Filmmärchen. Ganz im Gegensatz zum an dieser Stelle bereits beschriebenen «Reality» von Matteo Garrone, der damit leider nicht an den grossen Erfolg von «Gomorra» anknüpfen konnte, auch wenn die Jury dies anders sah und ihm für seine bemühte komödiantische Satire um Luciano und seinen irrwitzigen Traum von der «Big Brother»-Teilnahme den Grossen Preis der Jury verlieh.
Preise für schauspielerische Leistungen
Zwei starke Werke im Wettbewerb beendeten das «Rennen» ohne Hauptpreis, dafür je mit Auszeichnungen für die darstellerischen Leistungen: Mads Mikkelsen wurde für seine herausragende Leistung in «Jagten» von Thomas Vinterberg ausgezeichnet – während die beiden Nachwuchsschauspielerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur als Freundinnenpaar in Cristian Mungius Drama «Beyond the Hills» (für beide ist es die erste grosse Rolle in einem Film!) von der Jury ausgezeichnet wurden. Mungiu – der für «4 Months, 3 Weeks, 2 Days» vor drei Jahren die Goldene Palme erhielt – wurde immerhin noch mit dem Preis für das beste Drehbuch für die eindringliche Verfilmung eines Fait divers aus dem Rumänien im Jahr 2005 rund um ein tödlich verlaufendes Exorzismusritual belohnt.
«Beste Regie» ging an sperrigen Aussenseiter
Für Erstaunen sorgte der Preis für die beste Regie, der an den bei der Kritik durchgefallenen und als sperriger Aussenseiter gehandelte «Post tenebras lux» des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas ging. Sein ausserordentlich schwer zugänglicher Film dreht sich um eine Familie aus der Stadt, die sich mitten in der mexikanischen Pampa niederlässt und mit einer ungezähmten Natur konfrontiert wird. Daneben stehen Szenen aus dem Rahmen eines bourgeoisen Familienclans oder eine animierte Teufelfigur, die nachts als rotes Lichtgespenst durch die Zimmer des Hauses schleicht. Vom Regisseur als autobiografisches Werk und als «expressionistisches Gemälde» bezeichnet, präsentiert sich «Post tenebras lux» vor allem aber als verschlüsseltes und mysteriöses Werk, das mit seiner Fischaugenästhetik, die einen Grossteil der Bilder prägt, einen verstörenden Manierismus zu Markte trägt.
Resümee und Highlight
Von den 22 Werken im Wettbewerb stammten ganze fünf aus den USA, das damit am stärksten vertretene Land: Independent-Filme, die aber allesamt enttäuschten (mit Ausnahme von «Moonrise Kingdom») – trotz den Weltstars, die darin auftraten und die alle den roten Teppich von Cannes beehrten (Brad Pitt aus «Killing Them Softly», Nicole Kidman aus «The Paperboy» oder Jessica Chastain und Mia Wasikowska aus «Lawless»). Und auch Frankreich, das mit beachtlichen vier Titeln vertreten war, konnte sich einzig mit dem Werk eines Österreichers (Hanekes «Amour» ist eine französische Produktion) qualifizieren.
Dabei hat zumindest eines der Werke – last, but not least – verdient, aufgrund seiner unkonventionellen Handlung und seiner Machart aus der Menge herausgehoben zu werden: «Holy Motors» von Leos Carax. Carax (ein Pseudonym des 52-jährigen unter dem Namen Alexandre Oscar Dupont geborenen Regisseurs) drehte in rund 30 Jahren nur gerade fünf Filme – darunter seinen grossen Erfolg «Les amants du Pont Neuf» mit seinem Alter Ego und Fetisch-Schauspieler Denis Lavant, der in Frankreich und darüber hinaus Kultstatus genießt.
Und Kultstatus hat auch sein jüngstes Werk, in dem Lavant eine Traumrolle für jeden Schauspieler innehat. Darin wandelt sich Lavant im Lauf eines Tages und des Films als Monsieur Oscar (!) vom «Banker» zur bettelnden Alten auf den Brücken von Paris. Er wird zur kopulierenden Cyberfigur – zum «Monsieur Merde», der aus den Kloaken von Paris aufsteigt, um die schöne Eva Mendes, die als Model posiert, zu entführen, und er trifft schliesslich als unglücklich Liebender auf Kylie Minogue, die sich nach einer Song-Einlage vom Dach stürzt. Mit seinen eindringlichen und bizarren (Alptraum-)Bildern, mit denen er keine konventionelle Story, sondern eine ganze Reihe von Geschichten und Sketchs erzählt rund um Ich und Identität, vom Liebesdrama zum politischen Statement, vom Videoclip zum halluzinogenen Bildtrip, stach er nicht nur aus dem Wettbewerb heraus – er hat damit auch definitiv das Zeug zum Kultfilm, der hoffentlich auch in unseren Kinos zu sehen sein wird!
(Doris Senn)
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