63. Filmfestival Locarno – Schlussbericht von Walter Gasperi
Risikofreudig und anspruchsvoll präsentierte sich der Wettbewerb des 63. Filmfestivals von Locarno. Herausragende Meisterwerke fehlten zwar, aber groß war die Zahl formal eigenwilliger und konsequenter Filme. Eher dürftig war dagegen das Piazza-Programm.
Das erste Festival unter dem neuen künstlerischen Leiter Olivier Père brachte im Wettbewerb ein klares Bekenntnis zum kantigen Autorenfilm. Ein Solitär blieb in diesem Rahmen Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds sehr einfühlsames, aber auch sehr konventionelles Debüt „La petite chambre“. Behutsam erzählen die beiden Filmemacherinnen von einem alten Mann, den sein Sohn in ein Seniorenheim abschieben will, und einer Pflegerin, die über die Totgeburt ihres Kindes nicht hinwegkommt. Glänzend ist das von Michel Bouquet und Florence Loiret Caille gespielt, sodass man der langsamen Annäherung der beiden Protagonisten lange interessiert folgt. Doch je länger dieses leise Drama dauert, desto deutlicher tritt nicht nur die allzu ausgewogene Konstruktion zu Tage, sondern gegen Ende lösen sich auch alle Traumata und Probleme so rund auf, dass „La petite chambre“ ohne längere Nachwirkung bleibt.
Bilder des Stillstands, Geschichte einer Flucht
Solche Harmoniesucht kennt Li Hongqi nicht. Dessen „Han Jia – Winter Vacation“ wurde mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet und von der Ökumenischen Jury mit einer „Besonderen Erwähnung“ bedacht. In langen statischen und zumeist distanzierten Einstellungen zeigt der Chinese in seinem dritten Spielfilm Schüler, wie sie über Schule oder Freunde reden, einen Enkel, der mit seinem Großvater in einem weitgehend leeren Wohnzimmer auf einer Couch sitzt, oder eine Marktszene, in der eine Frau den Verkäufer herunterhandelt, ehe sie ihren Kohl kauft. Am Ende beginnt nach den Winterferien der Schulunterricht wieder und eine Lehrerin formuliert als Stundenthema „Wie werde ich ein nützliches Mitglied unserer Gesellschaft?“ - Ein Blick in die Klasse zeigt absolutes Desinteresse und ein Punksong beendet den Film.
Handlung gibt es über 90 Minuten praktisch keine, nichts als Menschen beim Reden sieht man, auch der Hintergrund der kargen Bilder bietet keine Anreize für die Augen. Mühsam ist dieser Film dadurch, aber gleichzeitig eindringlich in der Evokation von Stillstand, Orientierungs- und Perspektivelosigkeit - und ganz nebenbei stellen sich dabei auch Momente feinsten knochentrockenen Humors ein. Mehr von letzterem hätte man sich allerdings schon gewünscht oder auch mehr so eingängige Szenen wie das denkwürdige Finale, in dem massiv und überraschend offen Kritik an der chinesischen Gesellschaft geübt wird.
Lange Einstellungen, Wortkargheit und Momente trockenen Humors kennzeichnen auch den mit dem Spezialpreis der Jury und dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichneten rumänischen Wettbewerbsbeitrag „Morgen“. Marian Crisan erzählt darin von einem Türken, der auf seiner Flucht nach Deutschland einen in der abgeschiedenen Provinz lebenden Rumänen bittet ihn über die Grenze nach Ungarn zu bringen. Aktualität besitzt dieser Film in der Thematisierung der Grenzen im heutigen Europa, absurder Bürokratie, rumänischer Tristesse und dem Traum vom Paradies „Deutschland“, macht es dem Zuschauer mit seiner relativen Ereignislosigkeit, seiner Lakonie und seinen Redundanzen aber nicht leicht.
Im Vergleich zum aufregenden Wettbewerb, in dem freilich der eine oder andere Film, der restlos glücklich macht, fehlte, fiel das Programm der Piazza Grande deutlich ab.
Mordender Autoreifen als Piazza-Highlight
Ein wirkliches Highlight war hier Quentin Dupieuxs „Rubber“, in dem ein Autoreifen in den Weiten des Südwestens der USA zum Leben erwacht und zu einer Mordserie startet. Unsicher rollt der Pneu zwar zuerst dahin, wird aber bald sicherer und beseitigt zunächst Kleintiere oder Petflaschen mit physischer Gewalt. Als diese nicht mehr ausreicht, entwickelt er telekinetische Kräfte, mit denen er auch Menschenköpfe zum Platzen bringt.
Der Franzose Dupieux begnügt sich in „Rubber“ aber nicht mit der hinreißenden Persiflage von Serienkiller-Filmen, sondern fügt auch noch eine Metaebene ein: Er lässt Zuschauer auftreten, die per Feldstecher der Filmhandlung folgen, diese kommentieren und bald auch beeinflussen. – Mehr solche höchst unterhaltsame Filme hätte man sich auf der Piazza gewünscht. So musste man seine Lust nach Kino pur in der Retrospektive befriedigen, in der man sich vom zeitlosen Charme, Eleganz und Witz der Komödien des großen Ernst Lubitsch überzeugen konnte.
(Walter Gasperi)
Auszeichnungen 63. Festival del Film Locarno
Concorso internazionale (Internationaler Wettbewerb)
Die Internationale Jury des 63. Festival del film Locarno (Eric Khoo, Regisseur (Singapur), Golshifteh Farahani, Schauspielerin (Iran), Melvil Poupaud, Schauspieler (Frankreich), Lionel Baier, Regisseur (Schweiz), Joshua Safdie, Regisseur (USA) verleiht folgende Preise:
Pardo d’oro (Goldener Leopard), Grosser Preis des Festivals, der Stadt und Region Locarno, (Fr. 90.000 zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent) für den besten Film:
HAN JIA (Winter Vacation) von LI Hongqi, China
Premio speciale della giuria (Spezialpreis der Jury), Preis der Städte Ascona und Losone (Fr. 30.000 zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent) für den zweitbesten Film:
MORGEN von Marian Crisan, Frankreich/Rumänien/Ungarn
Pardo per la migliore regia (Preis für die beste Regie), Preis der Stadt und Region Locarno (Fr. 30.000 zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent):
Denis Côté für den Film CURLING, Kanada
Pardo per la miglior interpretazione femminile (Leopard für die beste Darstellerin):
Jasna Duricic im Film BELI BELI SVET (White White World), Serbien/Deutschland/Schweden
Pardo per la miglior interpretazione maschile (Leopard für den besten Darsteller):
Emmanuel Bilodeau im Film CURLING, Kanada
Concorso Cineasti del presente
Die Jury (Eduardo «Quintin» Antin, Filmkritiker, Anita Caprioli, Schauspielerin (Italien), Maren Ade, Regisseurin (Deutschland), Thom Andersen, Regisseur (USA), Joachim Lafosse, Regisseur (Belgien) verleiht folgende Preise:
Pardo d’oro Cineasti del presente – Premio George Foundation (Goldener Leopard für den Wettbewerb Cineasti del presente), Preisgeld in Höhe von Fr. 30.000, gestiftet von der George Foundation:
PARABOLES von Emmanuelle Demoris, Frankreich
Premio speciale della giuria CINÉ CINÉMA Cineasti del presente (Spezialpreis der Jury CINÉ CINÉMA), Ankauf des prämierten Films für Fr. 30.000 zur Ausstrahlung im französischen TV-Sender CINÉ CINÉMA:
FOREIGN PARTS von Verena Paravel und JP Sniadecki, USA/Frankreich
Besondere Erwähnung:
IVORY TOWER von Adam Traynor, Kanada/Frankreich
Opera prima (Erstlingsfilm)
Die Jury (Tony Rayns, Regisseur, Filmkritiker und Festivalprogrammierer (Grossbritannien), Francisco Ferreira, Journalist (Portugal), Christian Jungen, Filmkritiker (Schweiz) verleiht folgenden Preis:
Pardo per la migliore opera prima (Leopard für den besten Erstlingsfilm) Preis der Stadt und Region Locarno (Fr. 30.000 zu gleichen Teilen an Regisseur und Produzent) für den besten ersten Film in den zwei Wettbewerben (Concorso internazionale, Concorso Cineasti del presente) oder der Piazza Grande:
FOREIGN PARTS von Verena Paravel und JP Sniadecki, USA/Frankreich
Besondere Erwähnung:
AARDVARK von Kitao Sakurai, USA/Argentinien
Pardi di domani
Die Jury (Lisandro Alonso, Regisseur (Argentinien), Sylvie Pialat, Produzentin (Frankreich), Nina Meurisse, Schauspielerin (Frankreich), Miguel Gomes, Regisseur (Portugal), Corneliu Porumboiu, Regisseur (Rumänien) verleiht folgende Preise an die Kurzfilme:
Concorso internazionale (Internationaler Wettbewerb)
Pardino d’oro für den besten internationalen Kurzfilm (Goldener Pardino) SRG SSR idée suisse im Wert von Fr. 10.000 an:
A HISTORY OF MUTUAL RESPECT von Gabriel Abrantes und Daniel Schmidt, Portugal
Pardino d’argento (Silberner Pardino) Kodak Preis, umgesetzt in Filmmaterial der Eastman Kodak im Gesamtwert von Fr. 12’000 zu gleichen Teilen an einen Schweizer Film und einen Film im Internationalen Wettbewerb an:
POUR TOI JE FERAI BATAILLE von Rachel Lang, Belgien
Locarno-Kurzfilmnominierung für die European Film Awards, Pianifica-Preis an den Kurzfilm eines europäischen Regisseurs, der in einem der beiden Wettbewerbe gezeigt wurde. Der Preis in der Höhe von Fr. 2.000 ist von Studio Pianifica gestiftet und beinhaltet die Nominierung für die Kurzfilmkategorie der European Film Awards:
DIARCHIA von Ferdinando Cito Filomarino, Italien
Preis Film und Video Untertitelung, eine Untertitelung in drei mitteleuropäische Sprachen, gestiftet von der Firma Film und Video Untertitelung Gerhard Lehmann AG für einen Kurzfilm im nationalen und internationalen Wettbewerb:
HÖSTMANNEN (Autumn Man) von Jonas Selberg Augustsén, Schweden
Concorso nazionale (Nationaler Wettbewerb)
Pardino d’oro für den besten Schweizer Kurzfilm, Swiss Life Preis in der Höhe von Fr. 10’000:
KWA HERI MANDIMA (Good Bye Mandima) von Robert-Jan Lacombe
Pardino d’argento (Silberner Pardino), Kodak Preis, umgesetzt in Filmmaterial der Eastman Kodak im Gesamtwert von Fr. 12’000 zu gleichen Teilen an einen Schweizer Film und einen Film im Internationalen Wettbewerb an:
YURI LENNON’S LANDING ON ALPHA 46 von Anthony Vouardoux, Schweiz/Deutschland
Action Light Preis für das beste Schweizer Nachwuchstalent in Form filmtechnischer Dienstleistungen im Wert von Fr. 41’000. Die Preisstifter sind Action Light, Avant-première, EgliFilm, Film Demnächst, Kodak, Sound Design Studio, Swiss Effects, Taurus Studio, Titra Film und Yak Film. Der Preis geht an:
ANGELA von David Maye
Preise der Jury Cinema e Gioventù – Pardi di domani
Die Jury Cinema e Gioventù für die Sektion Pardi di domani setzt sich zusammen aus Matthias Schnyder, Heloise Dell’Ava, Tanya Bucher, Lydie Zanzen, Diego Benzoni, Zara Groh, Enrico Buletti, Jacopo Giulini, Sebastiano Piattini und Louis Klay.
Das Preisgeld in Höhe von SFr. 3000 ist gestiftet vom Departement für Bildung, Kultur und Sport des Kantons Tessin und geht zu gleichen Teilen an einen Film aus dem nationalen Wettbewerb und dem internationalen Wettbewerb:
Bester Kurzfilm im internationalen Wettbewerb:
KHOUYA (Mon Frère) von Yanis Koussim, Algerien/Frankreich
Besondere Erwähnung:
¿TE VAS? von Cristina Molino, Spanien
Bester Kurzfilm im nationalen Wettbewerb:
YURI LENNON’S LANDING ON ALPHA 46 von Anthony Vouardoux, Schweiz/Deutschland
Besondere Erwähnung:
DÜRÄ..! von Rolf Lang und Quinn Evan Reimann
Die Jugendjury Concorso internazionale (Internationaler Wettbewerb)
Die Jury (Simon Acevedo, Lena Bagutti, Matilde Beretta, Alina Bogdan, Filippo Demarchi, Orfeo Fumagalli, Jacopo Pelosato, Stefano Pelosato, Viola Poli, Matthias Staub, Giovanna Stella, Ferdinando Vella und Lydia Weyrich) verleiht folgende Preise:
Erster Preis (Fr. 6000), gestiftet vom Departement für Erziehung, Kultur und Sport des Kantons Tessin an:
XU Xin für den Film KARAMAY, China
Zweiter Preis (Fr. 4000), gestiftet vom Departement für Erziehung, Kultur und Sport des Kantons Tessin an:
Daniele Gaglianone für den Film PIETRO, Italien
Dritter Preis (Fr. 2000), gestiftet vom Departement für Erziehung, Kultur und Sport des Kantons Tessin an:
Marian Crisan für den Film MORGEN, Frankreich/Rumänien/Ungarn
Preis für Umwelt und Lebensqualität (Fr. 3000), gestiftet vom Kantonalen Departement des Gebietes für den Wettbewerbsfilm, der das Konzept «Umwelt ist Lebensqualität» am besten ausdrückt. Der Preis geht an:
Benedek Fliegauf für den Film WOMB, Deutschland/Ungarn/Frankreich
Prix du Public UBS
Der Publikumspreis der Piazza Grande (Fr. 20’000) geht an den Film:
THE HUMAN RESOURCES MANAGER von Eran Riklis, Israel/Deutschland/Frankreich
Variety Piazza Grande Award
Der Variety Piazza Grande Award wird durch eine Jury der Kritiker der amerikanischen Fachzeitschrift an einen Film aus dem Programm der Piazza Grande vergeben, der als Weltpremiere oder internationale Premiere gezeigt wird. Der Preis geht an ein Werk, das sowohl durch seine künstlerische Qualitäten als auch durch sein Potenzial in der Kinoauswertung besticht. Der Variety Piazza Grande Award geht an den Film:
RARE EXPORTS: A CHRISTMAS TALE von Jalmari Helander, Finnland/Norwegen/Frankreich/Schweden
Preis FIPRESCI Jury der internationalen Filmkritiker
Die Jury (Nicolas Bauche, Frankreich, Susanna Harutyunyan, Armenien, Adam Nayman, Kanada, Miroslaw Przylipiak, Polen, Nina Scheu, Schweiz) verleiht ihren Preis für den besten Wettbewerbsbeitrag an:
HAN JIA (Winter Vacation) von LI Hongqi, China
Besondere Erwähnung:
KARAMAY von XU Xin, China
Preis der Ökumenischen Jury
Die Jury (Cynthia Chambers, USA, Dr. Charles Martig, Schweiz, Rev. Angelika Obert, Deutschland, Rev. Michael Otrisal, Tschechien, Théo Peporte, Luxemburg, Waltraud Verlaguet, Frankreich) verleiht den mit Fr. 20'000 dotierten Preis, den die evangelisch-reformierten und die römisch-katholischen Kirchen der Schweiz zur Verfügung stellen und an die Schweizer Filmdistribution des Films gehen, an:
MORGEN von Marian Crisan, Frankreich/Rumänien/Ungarn
Besondere Erwähnungen:
HAN JIA (Winter Vacation) von LI Hongqi, China
KARAMAY von XU Xin, China
Prix FICC / IFFS - International Federation of Film Societies, Dachorganisation der Filmclubs und nichtkommerziellen Kinos
Die Jury (Fabio Gramegna, Schweiz, Barbara Fischer-Rittmeyer, Deutschland, Cristian Carmosino, Italien) verleiht den Don Quijote Preis an:
MORGEN von Marian Crisan, Frankreich/Rumänien/Ungarn
Besondere Erwähnung:
KARAMAY von XU Xin, China
CICAE Prix Art & Essai - Confédération Internationale des Cinémas d’Art & d’Essai, Preis des internationalen Verbands der Arthouse-Kinos.
Die Jury (Marianne Piquet, Frankreich, Léa Morin, Marokko, Svantje Wascher, Deutschland) verleiht den Art & Essai CICAE-Preis an:
BELI BELI SVET (White White World) von Oleg Novkovic, Serbien/Deutschland/Schweden
SRG SSR idée suisse/Semaine de la critique Preis 2010
Die Jury (Walter Hügli, Schweiz, Neptune Ravar Ingwersen, Schweiz, Luis Martinez Lopez, Spanien) verleiht den Preis SRG SSR idée suisse/Semaine de la critique, dotiert mit Fr. 8000, an:
REINDEER SPOTTING – ESCAPE FROM SANTALAND von Joonas Neuvonen, Finnland
Besondere Erwähnungen:
BLOOD CALLS YOU von Linda Thorgren, Schweden
THE FURIOUS FORCE OF RHYMES von Joshua Litle, Frankreich/USA
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