62. San Sebastián Filmfestival - Das Spanische Jahr. Von Geri Krebs
Mit der Preisverleihung und der Projektion des Abschlussfilms "Samba" von Olivier Nakache und Erik Toledano - in der sozialkritischen Komödie der "Intouchable"-Regisseure spielt erneut Omar Sy die Hauptrolle und brilliert als Sans-Papier - ging am Samstagabend die 62. Ausgabe des Filmfestivals San Sebastián zu Ende. Es war ein Jahrgang mit gewohnt vielen Stars und einem so ausufernden Programm wie seit Jahren nicht mehr - so ausufernd, dass selbst ein hartgesottener Kritiker wie jener von Spaniens wichtigster Tageszeitung "El País" zu Beginn des Festivals fragte: "Hat sich die Festivalleitung überlegt, dass auch Berichterstatter so profane Bedürfnisse haben wie Essen, Schlafen und Auf-die-Toilette-Gehen? Doch angesichts dieses Programms bleibt dafür schlicht keine Zeit". Neben der Überfülle des Programms, zu der auch zwei ausserordentlich gut kuratierte Retrospektiven, eine zum osteuropäischen Kino der letzten zwei Jahrzehnte, und eine zu Dorothy Arzner - jener ersten Frau, die sich in Hollywoods "Goldener Ära" als Regisseurin behaupten konnte - stachen an der diesjährigen Ausgabe aber vor allem zwei Elemente heraus: Erstens ein sehr starker Hauptwettbewerb, in dem zwar kein Film als klarer Favorit herausgeragt hätte, dafür gab es aber mindestens ein halbes Dutzend Filme, die ebenso berechtigterweise den Hauptpreis, die "Goldene Muschel", verdient hätte wie nun "Magical Girl" (der Film erhielt zudem auch noch den Preis für die beste Regie) des jungen Spaniers Carlos Vermut, ein eigenwilliger Mix aus Mysteryfilm und Manga-inspirierter Tragikomödie um ein todkrankes Mädchen und eine Femme fatale. Und zweitens fiel auf, dass das Kino des Gastgeberlandes Spanien in einem Ausmass präsent war wie nie zuvor.
Und das dürfte nicht ganz zufällig sein, denn als José Luis Rebordinos Anfang 2011 als neuer künstlerischer Leiter des Festivals sein Amt antrat, war eines seiner Versprechen jenes von einer stärkeren Präsenz des einheimischen Kinos gewesen. Das Festival von San Sebastián, das als internationaler Grossanlass mit weltweiter Ausstrahlung mit jenem von Locarno um die Qualifizierung als kleinstes unter den grossen europäischen Festivals wetteifert, solle für den spanischen Film jene Wichtigkeit erhalten, die Cannes für den französischen oder Venedig für den italienischen Film habe, hatte Rebordinos in seinem ersten Jahr als Festivaldirektor angekündigt. Und der sympathische Festivalleiter, der - ähnlich wie Carlos Chatrian in Locarno - zuvor schon jahrelang in kuratorischer Funktion für das Festival am baskischen Atlantikstrand tätig gewesen war, hielt Wort. Ab 2011 wurde die Präsenz spanischer Filme in den diversen Sektionen des Festivals mit jedem Jahr stärker. Bereits in jenem ersten Jahr von Rebordinos' Leitung ging - erstmals seit einem Jahrzehnt - die Goldene Muschel an einen spanischen Film, "Los pasos dobles" von Isaki Lacuesta.
Der neueste Film des katalanischen Regisseurs, "Murieron por encima de sus posibilidades", eine starbesetzte, rabenschwarze, trashige Satire auf Spaniens Wirtschaftskrise, erlebte nun seine Weltpremiere in San Sebastián, allerdings ausserhalb des Wetbewerbs. Nicht weniger als vier spanische Filme gab es dieses Jahr im 17 Filme umfassenden Hauptwettbewerb, und ausserhalb des Wettbewerbs, aber doch als Teil der "Sección oficial", gab es sogar noch zwei weitere spanische Beiträge. Einer von ihnen war besagter Film von Isaki Lacuesta, der mit seinem seltsamen Titel einen in den letzten Jahren häufig gehörten Satz abwandelte. Nämlich jenen, der besagt, dass die Spanier über ihre Verhältnisse gelebt und deshalb von der Krise solch harte Schläge erhalten hätten - und nun starben sie halt über ihre Verhältnisse. Der andere spanische Film ausserhalb des Wettbewerbs in der "Sección oficial" war "Lasa y Zabala" von Pablo Malo, der hier in die Vergangenheit blickt und in einer Mischung aus Dokudrama, Gerichtsfilm und Politthriller, basierend auf einem realen Fall, in ein düsteres Kapitel von Spaniens jüngster Geschichte eintaucht: Jenes des in den 1980er Jahren praktizierten Staatsterrorismus von Teilen des Polizeiapparates gegen tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten der ETA. Im vorliegenden Fall entführte eine Gruppe von Polizisten der Guardia Civil 1983 zwei junge Männer im französischen Exil, folterte und quälte sie zu Tode und verscharrte dann die Leichen in einer Kiesgrube im südspanischen Alicante. Über zehn Jahre später kam das Verbrechen ans Licht und mit ihm der Skandal, dass die Täter auf Anweisung der Regierung gehandelt hatten. "Lasa Y Zabala" war einer jener Filme am diesjährigen Festival, der das Publikum stark aufwühlte, es gab an der Premiere Standing Ovations für Schauspieler und Crew - und die Tatsache, dass heute ein Film wie dieser in Spanien sogar mit einem relativ grossen Budget realisiert werden konnte, zeigt immerhin, dass - zumindest im Baskenland - eine Vergangenheitsbewältigung stattfindet. Die düstere Gegenwart von Spaniens andauernder Wirtschaftskrise behandelte schliesslich noch ein Film in einer Sektion ausserhalb des Wettbewerbs, der Dokumentarfilm "En tierra extraña" von Icíar Bollaín. Die auch bei uns durch Filme wie "Te doy mis ojos" oder "También la lluvia" bekannte Regisseurin lebt seit 10 Jahren im schottischen Edinburgh. Im Gegensatz zu 20 000 Landsleuten, die seit Beginn der Krise 2007 nach Edinburgh emigriert sind - das sind fast 8% von 250 000 Spaniern, die das Land seit damals verlassen haben, leben heute in der schottischen Metropole - ist sie keine "klassische" Emigrantin. Denn sie ist ihrem Mann, dem schottischen, durch Ken Loach bekannten Drehbuchautor Paul Laverty, gefolgt. In ihrem vielschichtigen Dokumentarfilm, der die Befindlichkeit der spanischen Neuimmigranten in Schottland erkundet, zieht sie eine bittere, aber auch von leiser Hoffnung auf Veränderung gezeichnete Bilanz.
Die vier spanischen Filme im Wettbewerb waren - neben dem bereits erwähnten Träger des Hauptpreises, "Magical Girl" - das sozialkritische Science-Fiction-Märchen "Autómata" von Gabe Ibañez, der feine Film Noir "La isla minima" von Alberto Rodriguez und schliesslich "Loreak" (Flowers) der beiden jungen baskischen Regisseure Jon Garaño und Jose Mari Goenaga, ein stilles und durch seine Vielzahl angedeuteter Mysterien faszinierend verrätseltes Drama um drei Frauen und den Unfalltod eines Kranführers. Der Film ging unverdientermassen leer aus, die grösste überregionale Zeitung des Baskenlandes schrieb am Tag nach dem Festival in einem Kommentar, die Tatsache, dass der Film von internationalen Kritikern höher favorisiert gewesen sei als von einheimischen, lasse doch aufhorchen und zeige, auf welchen Höhen sich junges spanisches Kino derzeit befinde.
Im Gegensatz zu "Loreak" wurde schliesslich "La isla mínima" gleich mit zwei Preisen ausgezeichnet. Der Thriller um einen Mordfall an einem Mädchen im Gebiet der Guadalquivir-Mündung zur Zeit von Spaniens Übergang zur Demokratie Ende der 1970er Jahre bestach durch seine atmosphärische Spannung wie durch seine grossartige Fotografie und das Spiel der zwei ermittelnde Polizisten spielenden Hauptdarsteller Raúl Arévalo und Javier Gutiérrez. Zu Recht erhielten Kameramann Alex Catalán und Darsteller Javier Gutiérrez je eine Silberne Muschel für beste Fotografie, respektive besten männlichen Hauptdarsteller. Den stärksten Auftritt bei der Preisverleihung hatte dabei der Schauspieler Raúl Arévalo, derzeit einer der gefragtesten Akteure der mittleren Generation in Spanien, der am Abschlussabend für seinen wegen eines Theaterauftritts verhinderten Kollegen die Goldene Muschel in Empfang nahm und eine Grussbotschaft von Javier Gutiérrez verlas. Darin widmete der Schauspieler den Preis "jenem spanischen Kino und jenen Menschen, die in diesem Land von der Regierung des Mariano Rajoy malträtiert werden" - und erntete dafür tosenden Applaus. Bereits Pedro Almodóvar, der in seiner Eigenschaft als Produzent des argentinischen Films "Relatos Salvajes" von Damián Sziffron am Tag zuvor seit vielen Jahren am Festival wieder einemal einen umjubelten Auftritt hatte, äusserte sich in ähnlicher Weise, als er meinte, die Leute in Spanien würden in einem Land leben, deren Regierung es völlig egal sei, wenn Leute angesichts ihrer verzweifelten wirtschaftlichen Lage sich aus dem Fenster stürzten - starke Worte eines Starregisseurs in einem Spanien, dessen Kino gerade dabei ist, eine neue Blüte zu erleben.
(Geri Krebs)
Preise
Goldene Muschel für den besten Film |
Magical Girl, Spanien/Frankreich Regie: Carlos Vermut |
Silberne Muschel für die beste Regie |
Magical Girl, Spanien/Frankreich Regie: Carlos Vermut |
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Spezialpreis der Jury |
Vie Sauvage, Frankreich Regie: Cédric Kahn |
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Silberne Muschel für die beste Schauspielerin | Paprika Steen in Stille Hjerte, Dänemark, Regie: Bille August | Silberne Muschel für den besten Schauspieler |
Javier Gutiérrez in La isla mínima, Regie: Alberto Rodríguez |
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Jurypreis für die beste Fotografie |
Alex Catalán für La isla mínima, Spanien, Regie: Alberto Rodríguez |
Jurypreis für das beste Drehbuch | Dennis Lahane für The Drop, USA, Regie: Michaël R. Roskam | |
Publikumspreis |
The salt of the earth, Frankreich Regie: Wim Wenders und Juliano Ribeiro Salgado |
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Preis "Kutxa" |
Urok (The Lesson), Bulgarien/Griechenland Regie: Kristina Grozeva, Petar Valchanov |
Besondere Erwähnung |
Modris, Littauen/Griechenland, Deutschland Regie: Juris Kursietis |
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Preis "Horizontes" |
Güeros, Mexiko Regie: Alonso Ruizpalacios |
Besondere Erwähnungen |
Ciencias naturales, Argentinien/Frankreich Regie: Matías Lucchesi |
Gente de bien, Frankreich/Kolumbien Regie: Franco Lolli |
Preis "Irizar"al cine vasco" |
Negociador, Spanien Regie: Borja Cobeaga |
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Preis "TVE - Otra mirada" |
Bande de filles, Frankreich Regie: Céline Sciamma |
Besondere Erwähnung |
Gett, the trial of Viviane Amsalem, Israel/Frankreich/Deutschland Regie: Ronit und Shlomi Elkabetz |
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