22. Internationale Kurzfilmtage Winterthur. Von Irene Genhart
BRITISCHER HUMOR UND DIE SCHÄRFUNG DER WAHRNEHMUNG
Im Fokus Grossbritannien, ein Trailer, der zum Hören animiert, dazu aufregend Neues und wiedersehenswertes Historisches: Die 22. Internationalen Kurzfilmtage Winterthurer locken mit einem fein kuratierten Programm, das sich auch ins Experimentelle vorwagt. Zu den Höhepunkten gehören, nebst den zwei Wettbewerben, die Retrospektive des Film- und Videoartisten Mike Hoolbloom, drei Virtual Reality Programme und das Programm «Disney’s Annimated Technicolor» mit acht von Walt Disneys witzigen «Silly Symphonies» aus den 1930er Jahren.
Ein Rennen: Hase gegen Schildkröte, in Walt Disneys animiertem Tier- und Pflanzenreich. Der Hase prahlt, überheblich, egozentrisch, siegesgewiss. Die Schildkröte, Toby Tortoise, hat die Gemütsruhe vornweg. Der Hase saust beim Startschuss los, auf dass die Bäume an der Rennstecke von den Wurzeln kippen und die Blumen ihre Blätter verlieren. Die Schildkröte braucht einige zusätzliche Anfeuerungsschüsse bevor sie lostrottet. Der Hase, seines Vorsprungs gewiss, legt sich nach einer Weile zu einem Nickerchen unter einen Baum. Toby schleicht vorbei, wird aber wieder überholt; zum Verhängnis werden dem Hasen schliesslich die Häschen der Girl’s School, denen er mit allen möglichen Tricks zu imponieren versucht, bis dass er die Schildkröte schliesslich selbst im schnellsten Sauseschritt nicht mehr einzuholen vermag. «The Tortoise and the Hare», 1935 von Wilfred Jackson gedreht, stammt aus Walt Disneys Trickfilmreihe «Silly Symphonies». An den Winterthurer Kurzfilmtagen 2018 bietet er im Programm «Disney’s Animated Technicolor» historischen Rückblick auf das damals revolutionäre Dreifarben-Verfahren Technicolor No.4. Tatsächlich sind alle acht gezeigten Silly Symphonie-Filme nicht nur inhaltlich pointiert, sondern meist auch witzig und moralisch lehrreich. Zudem sind sie noch heute von betörender Farbbrillanz. Sie lassen aber auch anderes entdecken: Den elaborierten Umgang und das Funktionieren der zur Figuren-Charakterisierung und Unterstreichung der Handlung benutzten Filmmusik. Rennt der Hase, wird flott zum Marsch geblasen, die Schildkrötenmusik dagegen ist ausnehmend gemütlich und sanft. Damit klingt in einem der ältesten Beiträge der 22. Internationalen Kurzfilmtage Winterthur an, worauf auch deren Trailer verweist: Dass Film wahrnehmen, nicht nur Sehen, sondern auch Hören bedeutet. Tatsächlich vernimmt, wer genau hinhört, kurz bevor gegen Ende des Trailers aus einem Lautsprecher «Winterthur» ertönt, ein lautmalerisch aus Geräuschfragmenten der vorangehenden Szenen geformtes «Kurzfilmtage». Diese zwei Beispiele verweisen hübsch auf das, was die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur seit ihrer Gründung Mitte der 1990er-Jahre kennzeichnet: Entdeckerfreude und Innovationslust. Der bewusste Umgang mit kurzen audiovisuellen Formen. Nicht zuletzt die Überzeugung, dass diese, im Alltag allgegenwärtig, aber meist nur flüchtig wahrgenommen, einen Ort der vertiefenden Auseinandersetzung verdienen. Und heisse dieser Ort Winterthur und falle diese Auseinandersetzung in fünf Tage zum Novemberanfang; als «Ausflug in die auditive Wahrnehmung» bezeichnen die Organisatoren um den künstlerischen Leiter John Canciani den von Nikola Ilić gefertigten Trailer; 2018 finden die Kurzfilmtag vom 6.-11. November statt.
Angekündigt haben die Organisatoren an der Medienkonferenz «Filmhistorisches», «Zeitgenössisches» und eine «gehörige Portion britischen Humors». Zu den historischen Programmen gehören nebst dem Technicolor-Programm einige Blöcke der drei Fokus-Programme. «Georgian Rebels» etwa, das der Blütezeit des georgischen Kinos in den 1960er- und 1970ern nachspürt; «British Classics» und «It’s a Free Cinema», die im «Grossen Fokus: This Is Britain» die Free-Cinema-Bewegung der 1960er und das britischen Sozialkinos der letzten drei Jahrzehnte beleuchten. Nicht zu vergessen die Retrospektive, welche unter der Ansage «Person im Fokus» einige der wichtigsten Film- und Videoarbeiten des Kanadiers Mike Hoolbloom zeigt; Hoolbloom, der zu den profiliertesten Experimentalfilmer seines Landes gehört und in seinen Filmen oft auf die Situationen und Geschichten von Randständigen und Minderheiten verweist, kann man in Winterthur an einer Masterclass auch persönlich kennen lernen. Und weil man in Winterthur nicht nur das internationale, sondern auch das nationale Kurzfilmschaffen im Auge hat, gibt es auch Historisches aus Helvetien: zwei im Zeichen des Europäischen Kulturerbjahres stehende Patrimoine-Programme. Das eine trägt den Titel «Die Briten in der Schweiz» und lässt die Zuschauer in Filmen, die zwischen 1930 bis 1964 entstanden sind, die Schweiz aus der Sicht britischer Touristen entdecken. Das zweite, «Wissen der Hände», vermittelt in Filmen mit programmatischen Titeln wie «Die Beckibüetzer» (Walter Wachter, 1972) und «Heimposamenterei» (Yves Yersin, 1973) Einblicke ins reichhaltige Filmarchiv der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde.
Die kurze filmische Form neigt per se zum pointierten Erzählen. Und wo die Pointe nicht weit, ist der Witz nicht fern: Wer in Kürze nicht auf den Punkt bringt, was Sache ist, hat in Winterthur so wenig verloren, wie derjenige, der keinen Humor hat. Das gilt übrigens auch für die Programmgestalter, die ihr Programm regelmässig mit Augenzwinkern gestalten und sich dabei nicht scheuen, ihre Tätigkeit (selbst-)ironisch zu hinterfragen. Etwa, wenn sie im Programm «Hot Shorts», sieben der «kultigsten Wettbewerbseinreichungen» vorstellen und dabei von der «schleimigen Ode an den ‘Pfnüsel’» «fulminant eskalierender Junggesellenfeier» und dem «delirierenden Rachefeldzug eines Kojoten» sprechen; oder wenn sie unter dem Titel «Dismissed – Kill Your Darlings» , Filme zeigen, die das Auswahlteam ablehnte, obwohl sie – trashverdächtig – mit zum Meisterlichsten gehören, was kurz je das Licht der Leinwand erblickt. Dass, wenn man sich im grossen Fokus Grossbritannien zuwendet, in Winterthur auch einen Spezialblock der «Silly Side of Life» widmet, versteht sich: Allein schon der kürzeste Beitrag, Anna Mantzaris zweieinhalbminütige Filzanimation «Enough», bringt eine geballte Ladung von (fies-)pointierter Hintersinnigkeit auf die Leinwand; zu deren heftigeren Szenen gehören ein auf steiler Strasse von der Hand gelassener Kinderwagen mit nervig schreiendem Baby, zu den subtileren einige Menschen, die sich beim endlosen Warten auf den Bus auf den Gehsteig legen. Der Ausschlag für «This Is Britain» nun aber gab nicht unbedingt der legendär eigenwillige britische Humor, sondern der im März 2019 anstehende Brexit. Der kommt laut Canciani «nicht aus dem nichts» und Winterthur, das seit jeher immer wieder britische Kurzfilme vorführt, will dieses Jahr zeigen, wie die Brexit-Situation entstand.
So entpuppt sich «This Is Britain» – gezeigt werden auch Werke von renommierten Filmemachenden wie Mike Leigh («The Short & Curlies», 1987, Andrea Arnold («Wasp», 2003) – letztlich als Augenscheinnahme einer Nation im Umbruch und ist als solche brandaktuell. Zeitgenössisch Topaktuelles findet man an den Kurzfilmtagen auch unter den 18 Beiträgen im nationalen und den 35 Filmen im internationalen Wettbewerb. Hier gibt es auch Preise zu gewinnen: 10'000 Franken für den besten Schweizerfilm, 12'000 Franken für den besten Beitrag im internationalen Wettbewerb, einen mit 10'000 Franken dotierten Förderpreis und den ebenfalls 10'000 Franken starken Publikumspreis an einen der insgesamt 53 Filme in beiden Wettbewerben. Migration, Social Media und Frauenthemen, meinte Canciani, stünden in den Wettbewerben dieses Jahr im Vordergrund und sprach zugleich auch von einem «starken Schweizer Jahrgang»: Fünf der 18 Filme im nationalen Wettbewerb sind zugleich für den Preis des internationalen Wettbewerbs nominiert: «Soeurs Jarariju» von C. Cadena, «Chienne de vie» von J. Carrim, «Talking Soil» von J. Baumgartner, «The Flood Is Coming» von G. Böhmer, «All Inclusive» von Corina Schweingruber Ilić, Letztgenannte hat für ebendiesen Film 2017 den in Winterthur erstmals vergebenen Postproduktionspreis erhalten.
Die Kurzfilmtage durchlebten derzeit eine Phase der Konsolidierung und Stärkung, hat deren kaufmännische Leiter, Remo Lognhi an der Medienkonferenz gesagt. Er gibt sein Amt nach dem diesjährigen Festival ab, wer seine Nachfolge antritt, wird bei der Preisverleihung am 11. November bekannt gegeben. Doch auch wenn dieses Jahr keine aufregenden Neuerungen anstehen, hat Winterthur die Nase weiterhin vorn, wo es um die Zukunft des Kinos geht. Das zeigt sich nirgendwo schöner als im letztjährig lancierten Programm zum Virtual Reality Cinema, das dieses Jahr unter dem Titel «We’ve Only Just Begun» einige der aufregendsten und spektakulärsten 360°VR-Filme jüngster Zeit zeigt.
Irene Genhart
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