Terraferma
Rezension von Geri Krebs
Zehn Jahre nach seinem grossen Erfolg mit „Respiro“ ist Emanuele Crialese zurückgekehrt auf die kleine Insel Lampedusa zwischen Sizilien und Afrika, und er zeigt in einem bildstarken Drama den Zusammenprall zweier Welten.
Es beginnt mit einer langen Einstellung vom Meer und von einem Schleppnetz, das von einem Fischerboot durch dieses fast übernatürliche Blau gezogen wird. Auf dem Boot befindet sich der alte Fischer Ernesto (Mimmo Cuticchio) und sein Enkel, der zwanzigjährige Filippo (Filippo Pucillo). Wenig später erfährt man, dass Filippos Vater vor drei Jahren bei der Arbeit auf dem offenen Meer tödlich verunfallte, seine Leiche hat man nie gefunden. Trotz dieses Traumas sind Ernesto und Filippo Fischer mit Leib und Seele, das Meer ist ihre Welt, und vor allem der alte Ernesto könnte sich nie etwas anderes vorstellen als jeden Tag aufs grosse Wasser hinauszufahren, auch wenn diese Arbeit längst nicht mehr genug hergibt zum Leben.
Ganz anders sieht dies Giulietta (Donatella Finocchiaro), Filippos Mutter, die spätestens seit dem Tod ihres Mannes nicht nur genug hat von der Fischerei, sondern vom Inselleben überhaupt. Um über die Runden zu kommen, hat sie einige Zimmer des Hauses, das sie mit Sohn und Schwiegervater bewohnt, für Touristen renoviert – doch die Saison dauert nur kurz und deshalb möchte Giulietta eigentlich ganz weg, aufs Festland. Doch davon wollen ihr Sohn und ihr Schwiegervater gar nichts wissen, die Insel ist ihr Zuhause und hier werden sie bleiben und wenn die Fischerei zu wenig hergibt, dann muss man sich halt mehr am Geschäft mit den Touristen beteiligen.
Berührender Widerstandswille
In dieses fragile Universum kommen nun Menschen aus einer ganz anderen Welt, „Clandestini“ aus Afrika, Flüchtlinge auf überfüllten Booten, und als Ernesto und Filippo eines Tages auf dem offenen Meer auf ein kenterndes Boot voller AfrikaneInnen stossen, ist es für sie die selbstverständlichste Sache, die Flüchtlinge aufzunehmen und an Land zu bringen. Das ist schliesslich so seit Jahrtausenden der Brauch unter Menschen, die zur See fahren, und als Ernesto tags darauf von der Polizei – die von der Sache Wind bekommen hat – belehrt wird, dass er die Flüchtlinge umgehend hätte denunzieren müssen, erwidert er kühl: „Ich bin keiner, der eure Gesetze praktiziert“. Es ist ein so berührender wie auch märchenhaft anmutender Widerstandswille, der die Haltung der BewohnerInnen dieser nicht namentlich bezeichneten Insel in der Nähe von Sizilien charakterisiert. Es gibt hier Menschen, die in Not sind, also hilft man ihnen. So einfach ist das.
Poetisch überhöhtes Kinomärchen
Die Insel, das ist natürlich Lampedusa, jene an Afrika am nächsten gelegene Insel, auf der sich seit Jahren Flüchtlingsdramen viel grösseren Ausmasses abspielen als sie in „Terraferma“ gezeigt werden. Doch „Terraferma“ ist kein Dokumentarfilm, er wurde auch nicht auf Lampedusa gedreht, sondern auf Linosa (auf Lampedusa könnte diese Geschichte heute gar nicht mehr gedreht werden, zu aufgeheizt ist dort bisweilen das Klima), und er ist auch kein geradliniges Sozialdrama, sondern ein poetisch überhöhtes Kinomärchen über die Kraft der Solidarität. In „Nuovomondo/Golden Door“ aus dem Jahr 2006 , seinem vorherigen Film, hatte Emanuele Crialese in einem um 1900 spielenden Film gezeigt, dass Italiener vor noch gar nicht langer Zeit ihr Glück auch jenseits des Meeres suchten, und in „Respiro“, seinem grossen Kinoerfolg aus dem Jahr 2002, hatte er auf Lampedusa die Geschichte einer widerständigen Frau inszeniert, die sich einer patriarchalen Welt in ganz eigener Weise verweigert. In allen drei Filmen hat Filippo Pucillo mitgespielt, Crialese hat den damals neunjährigen Jungen 2001 auf Lampedusa entdeckt. Heute ist er zwanzig, er lebt weiter auf der Insel und er sagt über die afrikanischen Immigranten: „Ich habe viele Freundschaften mit ihnen erlebt – aber leider müssen diese Menschen nach ein paar Monaten wieder weiter“. So ganz märchenhaft ist „Terraferma“ dann doch nicht.
(Geri Krebs)
Kritiken
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