Silent Souls - Ovsyanki
Rezension von Irene Genhart
„Silent Souls“ von Aleksei Fedorchenko ist eines der magischsten Roadmovies der letzten Jahre, und eine wundersame Etüde über die Kunst des Erzählens, die Liebe, den Tod und eine Männerfreundschaft.
Film sei 24 Mal in der Sekunde die Wahrheit, hat Jean Luc Godard vor einem halben Jahrhundert behauptet. Doch jede Wahrheit ist immer subjektiv und im Kino lässt sich alles erzählen. Das weiss kaum einer so genau wie Aleksei Fedorchenko der mit seinem Mockumentary „First on the Moon“ („Perwye na Lune“) an den Filmfestspielen von Venedig 2005 doch prompt den Preis für den besten Dokumentarfilm abholte. Als Documentarfilmer bezeichnet sich der Russe selber, ein „wahres Märchen“ ist denn auch sein 2010 entstandener Film „Silent Souls“ („Ovsyanki“).
Sagenhaftes Volk der Merja
„Silent Souls“ spielt, auf einem Roman von Aist Sergeyev beruhend, im Russland von heute. Erzählt wird die Geschichte zweier befreundeter Männer und ihrer beider Liebe zu der kürzlich verstorbenen Tanja (Yuliya Aug). Tanja war die Gattin des Papierfabrikbesitzers Miron (Yuri Tsurilo), unterhielt mit dem Fotografen Aist (Igor Sergeyev) aber eine lockere Liebesbeziehung: Beim Volk der Merja, heisst es in „Silent Souls“, sei die freie Liebe selbstverständlich. Die Merja, erfährt man dann aus Wikipedia, waren ein finno-ugurisches Volk, das bis zum Mittelalter in der Gegend um Rostow am Nerosee und Moskau lebte, und eigentlich, heisst es in „Silent Souls“, wisse man gar nicht, ob es die Merja je gab. Doch ihre Nachkommen, heisst es ebenda – welch freches Spielchen Fedorchenko mit dem Zuschauer doch wieder treibt! – erkennen sich noch heute an nur für sie wahrnehmbaren Zeichen. Selbstverständlich ist nun nicht nur Aist, sondern sind auch Tanja und Miron Merja-Nachkommen. Und weil diese Merjas von heute eine ungeheure Sehnsucht nach ihren alten (heidnischen) Ritualen umtreibt, will Miron Tanja nach alter Väter Brauch ins Jenseits entlassen und bittet Aist ihm dabei zu helfen. So waschen die beiden denn die Leiche und schmücken sie, wie bei den Merja üblich, wie eine Braut für ihre letzte Reise. Dann legen sie sie auf den Rücksitz ihres Autos und brausen los.
Warmherzige Ode an die Liebe
Endlos fahren sie durch weite Herbstlandschaften zu einem See, an dem sie die Verstorbene auf offenem Feuer verbrennen und ihre Überreste dann dem Wasser übergeben. Während der Fahrt schweigen sie oder üben sich in der Kunst des „Rauchens“, einem uralten Merja-Brauch, bei dem die Hinterbliebenen nach dem Tod einer geliebten Person bis zu deren Beisetzung, einander intimste Dinge aus dem gemeinsamen Leben erzählen: Welch eine abstruse, doch für die Story goldige Idee! Überhaupt spult Federchenkos Film, zunehmend von Rückblenden durchzogen, in wunderbar eigenwilligen und melancholischen Gefilden dahin. Sie hätten sich auf dem Rückweg dann verirrt, berichtet der als Ich-Erzähler figurierende Aist, seien unterwegs zwei Huren begegnet, über eine endlose Brücke gefahren und derweil Miron die Trauer um seine Gattin das Herz brach, schwenkten seine Gedanken zu anderen, verlorenen Lieben: Der Mutter, der kaum geborenen Schwester, dem Vater. Phantastisch schön fotografiert und in Venedig zu recht mit dem Preis für die beste Kamera ausgezeichnet ist „Silent Souls“ eine enigmatische Etüde über die Kunst des spintisierenden Erzählens. Es ist aber auch warmherzige Ode an die Liebe und wahre Freundschaft, sowie ein glühendes Plädoyer für die erhaltende Pflege im Schwinden begriffener Traditionen und Kulturen.
Kritiken
Offizielle Website | Verleiher |
www.silentsoulsfilm.com | Trigon Film |
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