Poor Things

US 2023, OV/df / D, 141', Regie: Yorgos Lanthimos, mit Emma Stone, Willem Dafoe, Mark Ruffalo

Poor Things

Filmkritik von Walter Gasperi

Eine Emanzipationsgeschichte wie es noch keine gab: Yorgos Lanthimos inszeniert die Entwicklung einer jungen Frau als bildgewaltigen, immer wieder überraschenden, zwischen Realismus und grandioser Künstlichkeit pendelnden und von trockenem schwarzem Humor durchzogenen grandiosen Trip. – Überragend in der Hauptrolle: Emma Stone.

Schon die ersten Einstellungen, in denen eine schwarzhaarige Frau in langem samtblauem Kleid vor dunklem Himmel von einer Brücke in die Themse springt, stimmen auf ein außergewöhnliches Filmerlebnis ein: Auf Anhieb nehmen diese Bilder und die ungewöhnliche Musik von Jerskin Fendrix, der immer wieder mit metallenen Tönen und Dissonanzen arbeitet, gefangen.

Mit einem Schnitt wechselt der Grieche Yorgos Lanthimos, der mit "Poor Things" nach der eisigen Aktualisierung des Iphigenie-Mythos mit "The Killing of a Sacred Deer" (2017) und der brillanten Satire "The Favourite" (2018), hier sein Opus magnum vorlegt, von Farbe zu Schwarzweiß und zum Mediziner Dr. Godwin "God" Baxter (Willem Dafoe). Der im Gesicht durch Experimente seines Vaters, der den Sohn als Versuchsobjekt benutzte, aufgrund von Operationsnarben arg entstellte Akademiker hält an der Universität eine Anatomie-Vorlesung, bei der er von seinen Studenten teils verlacht wird. Dennoch holt er sich den jungen Max McCandles (Ramy Yousef) als Gehilfen in sein Haus.

Max soll genau das Verhalten und die Entwicklung der jungen Bella Baxter (Emma Stone) dokumentieren. Diese ist zwar bildschön, hat aber den Intellekt eines Kleinkinds. Überraschend ist dies nicht, denn Baxter hat die hochschwangere Selbstmörderin der Auftaktszene an Land gezogen, ihr Kind mittels Kaiserschnitts zur Welt gebracht und dessen Gehirn der halbtoten Mutter eingepflanzt und mit Stromstößen das neue Geschöpf zum Leben erweckt.

Eine Variation von Mary Shelleys Roman "Frankenstein" schuf so der schottische Autor Alasdair Gray mit seinem 1992 erschienenen schwarzhumorigen Roman "Poor Things" (deutsch: "Arme Dinger", 2000), der dem Film zugrunde liegt. Im Gegensatz zum Roman Shelleys steht aber nicht der Wissenschaftler, sondern dessen weibliches Geschöpf im Mittelpunkt von Lanthimos´ Film, der auf den ersten Blick im viktorianischen England des späten 19. Jahrhunderts spielt.

Nur auf den ersten Blick in dieser Zeit spielt "Poor Things", weil einerseits Kleidung und Ausstattung in diese Zeit versetzen, andererseits aber später futuristische Elemente wie Seilbahnen oder ein mächtiger Ozeandampfer eine ebenso grandiose wie künstliche Steampunk-Atmosphäre erzeugen. Doch nicht nur die Irrealität dieser an die Filme Federico Fellinis erinnernden überbordenden Kulissenwelt, die hier die Production Designer James Price and Shona Heath geschaffen haben, sorgt für ebenso aufregende wie verstörende Kinomomente. Gesteigert wird dieses Gefühl nämlich noch durch extreme Weitwinkelaufnahmen und den Einsatz von Fischaugenobjektiven, mit denen Kameramann Robby Ryan, der auf 35mm drehte, die Räume verzerrt.

Baxters bedingungsloser Forscherwille wird im Haus sichtbar, wenn im Garten ein Hundekörper mit einem Gänsekopf ebenso wie eine Henne mit einem Mopskopf herumrennt. Diesem Godwin als Gott steht mit Bella die Schöne gegenüber. Jedes Verlassen des Hauses verbietet er ihr, doch zunehmend größer wird ihr Verlangen die Welt kennenzulernen.
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