Zwischenbericht vom 63. Filmfestival in Cannes. Von Hans Jürg Zinsli
Einsamkeit, Verunsicherung und die Angst vor dem Tod. Das Filmfestival von Cannes, das sich in seinem 63. Jahr selbst im Rang eines Senioren befindet, wartet mit schweren Themen auf.
Aber niemand drückt solch existenzielle Sorgen so leichtfüssig aus wie Woody Allen. „Ich rate niemandem, älter zu werden. Das ist ein lausiger Deal“, sagt der New Yorker Filmemacher in Cannes. Und setzt noch einen drauf: „Meine Beziehung zum Tod ist seit Jahren dieselbe – ich bin strikt dagegen.“
Damit hat der 74-jährige Regisseur die Lacher auf seiner Seite. Und es fällt kaum auf, dass man solche Statements von ihm schon öfter gehört hat. Ein Déjà-vu-Effekt stellt sich auch bei Allens jüngstem, in London angesiedelten Film ein, der in Cannes ausser Konkurrenz läuft: “You Will Meet a Tall Dark Stranger“ entfaltet ein siebenköpfiges Personengeflecht, von denen sich die meisten auf der Suche nach beruflicher und privater Erfüllung fürchterlich verheddern.
Zu Allens Starensemble zählen diesmal Antonio Banderas, Naomi Watts, „Slumdog Millionaire“-Aufsteigerin Freida Pinto sowie die dralle Neuentdeckung Lucy Punch, welche mit Anthony Hopkins ein ausgesprochen groteskes Paar abgibt – sie als blondes Dummchen, er als einfältiger Senior, der dafür seine langjährige Gattin stehen lässt.
Obwohl der 74-Jährige im Gespräch witzig und fit wirkt – wirkliche Durchschlagskraft möchte man seiner episodischen Komödie nicht attestieren. Die einzige Überraschung von „You Will Meet a Tall Dark Stranger“ ist, dass in Anspielung auf den orakelhaften Titel am Ende die auf Esoterik und Wahrsagerei vertrauenden Figuren die Glücklichen sind. Woody Allen dazu: „Schon Nietzsche und Freud wussten: Wer sich seine Welt schön lügt, fährt am Ende besser.“
Neues von Mike Leigh
Dieses Thema nimmt auch der britische Filmemacher Mike Leigh auf, der 1996 in Cannes für „Secrets and Lies“ die Goldene Palme erhielt. In seinem Wettbewerbsbeitrag „Another Year“ steht ein älteres glückliches Ehepaar (Jim Broadbent, Ruth Sheen) im Zentrum, das sich im Laufe eines Jahres zur Anlaufstelle für gescheiterte Existenzen und einsame Herzen entwickelt – inklusive dem eigenen Sohn.
Komödiantisch wirkt das bei Leigh nur selten. Doch mit seiner unnachahmlichen Art der Schauspielführung - in monatelangen Improvisationen erarbeitet - bringt der britische Filmemacher einmal mehr Erstaunliches zustande. Seine Figuren brauchen bloss zwei Sätze zu sagen, und schon hat man ein ganzes Panorama des Unglücks vor sich. Oder in den simplen Worten von Mike Leigh: „Ich glaube, dass das Leben mit der Zeit klarer, aber auch schwerer wird.“
Rache einer gepeinigten Haushälterin
Als bislang besten und drastischsten Film des Wettbewerbs gilt es jedoch den südkoreanischen Beitrag „The Housemaid“ zu nennen. Regisseur Im Sang-soo erzählt in diesem Remake des gleichnamigen Klassikers von 1960 von einer Haushälterin (Jeon Do-Youn), die in einer stinkreichen Familie die Hölle auf Erden erfährt. Nachdem sie vom Patriarchen geschwängert wurde, lassen die Hausherrin und deren Mutter nichts unversucht, um das ungeborene Kind zu töten. Als ihnen dies letztlich gelingt, rächt sich die Haushälterin auf eine Weise, die sowohl die Familie wie den Zuschauer nachhaltig verstört: Die Gepeinigte geht am Kronleuchter hängend in Flammen auf.
Stones Fortsetzung von „Wall Street“
Für spektakuläre Schauwerte sorgte in Cannes auch Oliver Stone, der in „Wall Street 2: Money Never Sleeps“ 23 Jahre nach dem Original mit gewaltiger Starpower die Läuterung eines Unbelehrbaren in Aussicht stellt. „Ist Geiz gut?“ heisst das Buch, das Gordon Gekko (Michael Douglas) nach acht Jahren Gefängnisstrafe wegen Insiderhandels geschrieben hat. Der Vater aller Finanzhaie ist also wieder da. Doch ein Fragezeichen ist auch zu Gekkos familiärer Situation angebracht: Seine Frau hat ihn verlassen, sein Sohn starb an einer Überdosis und seine Tochter Winnie (Carey Mulligan), die mit dem jungen Broker Jake (Shia LaBeouf) liiert ist, will nichts mehr von ihm wissen. Doch als die Finanzwelt 2008 zu kollabieren beginnt, braucht Jake, dessen bisheriger Mentor (Frank Langella) von einem skrupellosen Investmentbanker (Josh Brolin) zugrunde gerichtet wurde, einen neuen Ziehvater. Und Gekko, der zurück will an die Schalthebel der Macht, schlägt sofort ein.
„Wall Street: Money Never Sleeps“ gefällt als Film, der mit fetten Interieurs, pompösem Soundtrack und börsenkurven-ähnlichen Skylines klotzt. Die Bildsprache ist simpel, aber effektiv. Und als Zuschauer fühlt man sich manchmal wie auf der Titanic – mit Grandezza unter Volldampf Richtung Eisberg unterwegs – und amüsiert sich köstlich, wenn Gekko in der ersten Szene sein Uralt-Handy von 1987 zurückbekommt. Oder wenn Charlie Sheen (der in „Wall Street“ die naive Hauptfigur Bud Fox verkörperte) einen Cameo-Auftritt hat. Bleibt die Frage, ob der abgefeimte Egoist Gordon Gekko neuerdings wirklich für familiäre Werte einsteht? Oder ob das alles Lug und Trug ist im Zeichen der Bankenkrise? Eines steht fest: Indem Oliver Stone die Spannung bis fast zum Schluss hält, wird die Filmfortsetzung den hohen Erwartungen mehr als gerecht.
(Hans Jürg Zinsli)
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