Vorschau auf das 70. Festival de Cannes vom 17. - 28. Mai 2017. Von Doris Senn
70 Jahre Cannes!
1946 gegründet, fiel es zweimal aus, einmal wurde es abgebrochen. Am Mittwoch eröffnet das prestigeträchtigste Filmfestival der Welt seine 70. Ausgabe.
Stars, Stars, Stars
Den glamourösen Auftakt zur Jubiläumsausgabe macht das Liebesdrama „Les fantômes d'Ismaël", der 12. Film von Arnaud Desplechin. Der französische Regisseur ist hierzulande kaum bekannt, woran auch sein neustes Werk nichts ändern dürfte. Doch Desplechin – seit 1990 ein Habitué an der Croisette – bringt Marion Cotillard, Charlotte Gainsbourg und Mathieu Amalric mit, drei der angesagtesten Schauspieler/innen zurzeit in Frankreich. Und Cannes kann dem Starglamour bekanntlich nur schwer widerstehen…
So werden die legendären roten Stufen des Palais du Festival einmal mehr von den ganz Grossen erklommen: etwa «Botox Survivor» Nicole Kidman, die gleich mit vier Filmen anreist (u.a. den Wettbewerbsfilmen von Sofia Coppola und Yorgos Lanthimos); Tilda Swinton kommt mit „Snowpiercer“-Regisseur Bong-Joon-ho und seinem neusten Werk „Okja“; Ben Stiller, Emma Thompson und Dustin Hoffman hat Noah Baumbach („Francis Ha“) für seinen neusten Mumblecore-Titel „The Meyerowitz Stories“ im Cast. Isabelle Huppert und Mathieu Kassovitz begleiten Michael Hanekes „Happy End“, den der zweifache Gewinner der Goldenen Palme („Das weisse Band“, „Liebe“) vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdramen in Calais inszenierte, und Emmanuelle Seigner kommt mit Lebenspartner Roman Polanski und seinem „D’après une histoire vraie“.
Thriller, Action, Sci-Fi
Das Line-up des Wettbewerbs im Jubiläumsjahr, bestehend aus „nur“ 19 Titeln, verströmt zwar nicht den Glanz des vergangenen Jahrs – verspricht dafür umso mehr Action und Gänsehaut. Sofia Coppola („Lost in Translation“) präsentiert den Thriller „The Beguiled“. Mit viel Kerzenlicht, Stars mit blassem Teint und Rüschenkleidern (Nicole Kidman, Kirsten Dunst, Elle Fanning) ins Bild gesetzt, nehmen junge Frauen während des Sezessionskriegs einen verwundeten Soldaten auf, wobei gleich drei um seine Liebe buhlen – mit blutdrünstigem Ausgang. „The Beguiled“ ist ein Remake des gleichnamigen Titels von Don Siegel mit Clint Eastwood aus dem Jahr 1971, das die Kritik damals als „sensationalistischer, frauenfeindlicher Albtraum“ betitelte. Nun hofft man (wohl vergeblich) auf einen feministischen Dreh des Machwerks, das alle Männerängste in sich zu bündeln scheint… Ebenfalls einen Thriller präsentiert Fatih Akin mit „Aus dem Nichts“: Katja (Diane Krüger) verliert ihre Familie bei einem Bombenattentat und will eigenhändig für Gerechtigkeit sorgen. Während die Netflix-Produktion „Okja“ von Bong-Joon-ho ein Sci-Fi-Actionfilm ist, in dem ein Mädchen einen Grosskonzern daran zu hindern sucht, ihren besten Freund – eine Bestie namens Okja – zu entführen.
Auch François Ozon reist mit einem (Erotik-)Thriller nach Cannes: „L’amant double“ – in der Hauptrolle Marine Vacth (aus „Jeune & Jolie“). Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos wagt nach seinem bizarren „The Lobster“ einen Psycho-Horrorfilm mit „The Killing of a Sacred Deer“. In dieser Adaption des Iphigenie-Stoffs versucht ein erfolgreicher Chirurg (Colin Farrell) mit seiner Frau (Nicole Kidman), einen Teenager aus prekären Verhältnissen in seine, bereits angeschlagene, Familie zu integrieren – mit fatalen Folgen. Last, but not least präsentiert Roman Polanski „D'apres une historie vraie“, der – entgegen voreiliger Annahmen – nicht auf seinem eigenen Leben beruht, sondern auf dem preisgekrönten gleichnamigen Roman von Delphine de Vigan, in dem eine Schriftstellerin von einer Fremden umgarnt wird, die schliesslich ihren Platz einnimmt.
„La sélection des cinéphiles“
Um einiges spannender als die Werke mit Adrenalinkick dürfte es im Wettbewerb mit Todd Haynes werden, der nach seinem brillanten „Carol“ von Patricia Highsmith wieder eine Literaturverfilmung präsentiert: „Wonderstruck“ nach einem Roman von Brian Selznick (Drehbuch für Scorseses Film „Hugo“) hat zwei Erzählstränge: Ben sucht 1977 seinen Vater, Rose 1927 ihren Sohn – bis klar wird, dass beide ein und demselben Mann auf der Spur sind. Haynes verknüpft die Stränge – die Selznick zum einen in Worten, zum anderen in Bildern erzählt – vor dem Hintergrund der spektakulären Dioramen des Museum of Natural History in New York.
Aber auch Jacques Doillon macht neugierig. Der französische Regisseur zeichnete in über 30 Jahren bereits über 30 Filme und war auf allen grossen Festivals anzutreffen mit vielfachen Nominierungen, doch glücklos, was die grossen Auszeichnungen betrifft. Er präsentiert nun mit „Rodin“ ein Biopic zum berühmten Bildhauer – mit Vincent Lindon („La loi du marché“) in der Hauptrolle und der Rocksängerin Izïa Higelin („La belle saison“) als Camille Claudel. Robin Campillo wiederum stellt mit „120 Battements par minute“ seine dritte Regiearbeit vor – über die 90er-Jahre und den Kampf von Act-Up gegen Aids. Während Michel Hazanavicius („The Artist“) den zunehmend publikumsscheuen Godard verjüngt auf die Leinwand bringt: „Le Redoutable“ beruht auf dem autobiografischen Buch „Un an aprés“ (2015) von Anne Wiazemsky, die Ende 60er kurz mit Godard verheiratet war und Einblick in ihr Paarleben gibt – mit Louis Garrel in der Hauptrolle.
Die Jury amtet unter der Leitung von Pedro Almodóvar mit u.a. Maren Ade, der Regisseurin von „Toni Erdmann“, und verkündet am 28. Mai ihr Verdikt.
Flashback
Das allererste Filmfestival von Cannes hätte am 1. September 1939 eröffnet werden sollen, unter der Präsidentschaft von Louis Lumière, des Co-Erfinders des Cinematographe und Begründers des Kinos – wurde aber abgesagt, weil Deutschland gleichentags in Polen einmarschierte. So entstand das Festival erst 1946, unmittelbar nach dem Krieg. Zweimal fiel es aus, aus finanziellen Gründen: 1948 und 1950. 1968 wurde es abgebrochen: Louis Malle trat aus der Jury zurück, Claude Lelouch, Roman Polanski, Jean-Luc Godard u.a. drangen in den Grossen Saal des Palais du Festival ein und forderten den Abbruch der Vorführung in Solidarität mit den streikenden Arbeitern und Studenten. Carlos Saura, Alain Resnais und Milos Forman nahmen in der Folge ihre Filme aus dem Wettbewerb. Seither bot Cannes immer wieder Anlass für Kontroversen und Skandale – in jüngsten Jahren wegen seiner Frauenfeindlichkeit: So liess es 2012 den Wettbewerb mit 22 Filmen – ohne eine einzige Regisseurin stattfinden, und 2015 gingen die Wogen hoch, als Cannes weibliche Gäste seiner Galavorstellungen abwies, weil sie keine High Heels trugen... Und ja: In den langen 70 Jahren seiner Existenz hat nur eine einzige Frau die Goldene Palme erobern können: Jane Campion mit „The Piano“ – und das auch nur ex aequo mit einem Mann: Chen Kaige mit „Farewell, My Concubine“. Wohlgemerkt im lang zurückliegenden 1993…
(Doris Senn)
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