Vorschau auf das 67. Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi
Filme von Newcomern und Aussenseitern aus aller Welt im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden, Action, Komödien und Feelgood-Movies auf der Piazza Grande, starke Schweizer Präsenz und zahlreiche Stargäste verspricht das Programm des heurigen Filmfestivals von Locarno.
Eröffnet wird das Festival mit Luc Bessons „Lucy“, der schon eine Woche später in den Schweizer Kinos anlaufen wird. Für Starpower zumindest auf der Leinwand werden dabei Morgan Freeman und Scarlett Johanssson sorgen. Letztere spielt eine Drogenkurierin, die übermenschliche Kräfte entwickelt, nachdem versehentlich eine große Menge Drogen in ihren Kreislauf geraten ist. – Persönlich werden die US-Stars aber nicht an den Lago Maggiore kommen.
Piazza: Komödiantisches und Zwischenmenschliches
Nach diesem actionlastigen Auftakt dürften an den folgenden Abenden auf der Piazza Grande weitgehend leicht konsumierbare menschliche Geschichten den Ton angeben. Lasse Hallströms Bestsellerverfilmung „The Hundred-Foot Journey – Madame Mallory und der Duft von Curry“, mit der der in den USA arbeitende Schwede an seinen Hit „Chocolat“ anknüpfen möchte, steht ebenso dafür wie Jasmila Žbanićs an der kroatischen Küste spielende Sommerkomödie „Love Island“ oder „Dancing Arabs“, in dem sich Eran Riklis nach „The Syrian Bride“ und „Lemon Tree“ ein weiteres Mal mit den israelisch-palästinensischen Beziehungen und Identitäten beschäftigen wird.
Der Bogen des bunt gemischten Programms spannt sich vom Biopic über eine Ende des 19. Jahrhunderts taubblind geborene Französin („Marie Heurtin“ von Jean-Pierre Améris) über eine „Westside-Story“ im Roma-Milieu („Geronimo“ von Tony Gatlif) bis zur Tragikomödie zum Thema Sterbehilfe („Hin und weg“ von Christian Zübert).
Starke Schweizer Präsenz
Auffallend ist, dass das Piazza-Programm, Koproduktionen mit eingerechnet, von Hallströms Film abgesehen fast zur Gänze von Frankreich, Deutschland und der Schweiz bestritten wird. Allen drei Ländern ist Olivier Assayas´ Cannes-Teilnehmer „Sils Maria“ zuzuordnen, während mit Peter Luisis „Schweizer Helden“ und Mathieu Urfers „Pause“ auch zwei reine eidgenössische Komödien eingeladen wurden.
Gewohnt stark ist die Schweizer Präsenz mit „Cure – The Life of Another“ von Andrea Štaka, die 2006 mit „Das Fräulein“ den Goldenen Leoparden gewonnen hat, sowie Fernand Melgars Dokumentarfilm „L´abri“ auch im Wettbewerb. Während Štaka eine Teenagergeschichte in Kroatien nach dem Ende des Balkankrieges erzählt, blickt Melgar in seinem Dokumentarfilm, mit dem er nach „La Forteresse“ und „Vol special“ eine Trilogie über die Situation von Asylanten in der Schweiz abschliesst, auf eine Notschlafstätte in Lausanne.
Drei Schweizer Filme laufen in der „Semaine de la critique“, in der wie jedes Jahr außergewöhnliche Dokumentarfilme präsentiert werden: Marcel Gisler zeichnet in „Elektroboy“ das bewegte Leben des Schweizer Florian Burkhardt nach, Stéphanie Barbey und Luc Peter dokumentieren in „Broken Land“ das Leben an der Grenze zwischen USA und Mexiko und Paolo Poloni schildert in „Mulhapar“ das Leben in einem pakistanischen Dorf.
Im „Panorama Suisse“ wird mit zehn Produktionen ein Überblick über das aktuelle eidgenössische Filmschaffen von Sabine Boss' Hit „Dr Goalie bin ig“ bis zu Christian Freis Dokumentarfilm „Sleepless in New York“ geboten, in der Sektion Cinéastes du present läuft Matthias Husers Spielfilmdebüt „They Chased Me Through Arizona“ und „Außer Konkurrenz“ feiern mit „Yalom´s Cure“ und „Homo Faber“ neue Dokumentarfilme von Sabine Gisiger und Richard Dindo ihre Uraufführung.
Filmische Weltreise im Wettbewerb
Im Gegensatz zum Programm der Piazza laden die 17 Filme im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden zu einer filmischen Weltreise ein. Neben der Schweiz ist hier das US-Independentkino mit Alex Ross Perrys „Listen Up Philip und J. P. Sniadeckis „The Iron Ministry“ ebenso vertreten wie Russland („Durak“ von Yury Bykov), Griechenland („A Blast“ von Syllas Tzoumerkas) und auch der aufgrund des Sprachraums und der Grenznähe scheinbar unverzichtbare Italiener fehlt mit Bonifacio Angius´ „Perfidia“ nicht.
Zwei Filme schicken Südkorea und Argentinien ins Rennen, doch das Schwergewicht des Wettbewerbs steuert allein schon aufgrund der Länge von fünfeinhalb Stunden der Philippino Lav Diaz mit „Mula sa kung ano ang noon“ bei.
Wie Diaz stehen auch der Portugiese Pedro Costa und der Franzose Eugène Green, die mit „Cavalo Dinheiro“ beziehungsweise „La sapienza“ eingeladen wurden, für ein formal eigenwilliges Kino. Insgesamt darf man somit im Wettbewerb auf einen spannenden Mix hoffen, der sich laut dem künstlerischen Leiter Carlo Chatrian zwischen „Filmen, die ganz auf die erzählerische Kraft einer Geschichte vertrauen und Filmen, die sich auf eine lückenhafte Spurensuche begeben“ bewegt.
Gespannt sein darf man dabei auch, ob die fünfköpfige Jury, der neben dem letzten Biennale-Sieger Gianfranco Rosi und dem heurigen Berlinale-Sieger Diao Yinan sowie dem deutschen Regisseur Thomas Arslan die Schauspielerinnen Alice Braga und Connie Nielsen angehören, ähnlich radikale Preis-Entscheidungen fällen wird wie die Juries der letzten Jahre.
Stars und Ehrenpreise
Aber auch an Glamour und Starauflauf wird es am Lago Maggiore nicht fehlen. Roman Polanski wird am 15. August eine Masterclass leiten und einen Ehrenpreis erhalten. Die 86-jährige Agnès Varda wird mit einem Ehrenleoparden und die Hongkonger Produzentin Nansun Shi mit dem Premio Raimondo Rezzonico ausgezeichnet. Weitere Ehrenpreise werden verliehen an Juliette Binoche (Excellence Award Moët & Chandon), den amerikanischen Kameramann Garrett Brown, der Mitte der 1970er Jahre die Steadycam entwickelte (Vision Award – Nescens), Armin Müller-Stahl (Lifetime Achievement Award–Parmigiani), Mia Farrow (Leopard Club Award) und den spanischen Regisseur Victor Erice („Pardo alla carriera“). Ergänzend dazu wird jeweils eine Auswahl von Filmen der Geehrten gezeigt.
Retrospektive für italienisches Produktionshaus Titanus
In die Filmgeschichte eintauchen kann man schließlich mit der Retrospektive, die sich nach großen Regisseuren wie Lubitsch, Minnelli und Cukor in den letzten Jahren heuer dem 1904 in Neapel gegründeten italienischen Produktionshaus Titanus widmet. Der Schwerpunkt liegt dabei zwar auf der goldenen Produktionszeit von 1945 bis 1965, aus der Klassiker von Fellini, Antonioni, Rosi und auf der Piazza als Spätvorstellung Viscontis „Il gattopardo“, Komödien von Luigi Comencini, aber auch Sandalen- und Horrorfilme gezeigt werden, doch auch Produktionen aus der Stummfilmzeit oder Giuseppe Tornatores 2010 gedrehter „L`ultimo gattopardo“ fehlen nicht.
(Walter Gasperi)
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