Vorschau auf das 65. Filmfestival Cannes. Von Doris Senn
Das 65. Filmfestival Cannes eröffnet am Mittwoch mit «Moonrise Kingdom» von Wes Anderson («Fantastic Mr. Fox»). Farbgesättigt und mit lakonisch-(neu)britischem Humor erzählt der Film von einer Insel vor Neuengland in den 1960ern, auf der ein kleiner Pfadfinder mit Freundin samt Kätzchen durchbrennt und ein Dorf in Aufruhr versetzt.
Das Drehbuch zu «Moonrise Kingdom» schrieb Anderson mit Roman Coppola (dem Bruder von Sofia), und er gewann für den Film eine ganze Reihe Altstars: Bruce Willis, Tilda Swinton, Bill Murray, Frances McDormand und Harvey Keitel. Der Film wurde zu einem grossen Teil auf Super-16-mm gedreht (!), was die kultige Ästhetik jener Jahre am besten wiederzugeben versprach. Die beiden jungen Hauptdarsteller Kara Hayward und Jared Gilman stehen zum ersten Mal vor der Kamera.
Wetteifern um die Goldene Palme
Um den Hauptpreis in Cannes buhlt u. a. Matteo Garrone («Gomorrha») mit seinem Film «Reality». Darin geht es um einen neapolitanischen Fischverkäufer, der mit «Big Brother» ins TV kommt und die Realität nie mehr so sehen wird wie zuvor. Das kanadische Wunderkind Xavier Dolan bringt mit «Laurence Anyways» einen Transgender-Film nach Cannes. Der österreichische «Extremfilmer» Ulrich Seidl nimmt nach «Import. Export» (2007) zum zweiten Mal am Wettbewerb teil: Sein «Paradies: Liebe» handelt von einer älteren Wienerin, die als Sextouristin nach Kenia fährt. Der Rumäne Cristian Mungiu («4 Month, 3 Weeks, 2 Days»), der 2007 die Goldene Palme mit seinem Abtreibungsdrama erhielt, kehrt mit «Dupa dealuri» («Beyond the Hills») in den Cannes-Wettbewerb zurück: Das Drama um zwei Frauen, die in einem Waisenhaus in Rumänien aufwuchsen, wurde von den Dardenne-Brüdern koproduziert. Thomas Winterberg («Festen», 1999) schliesslich schaffte es mit «Jagten» in die Cannes-Auswahl: dem Drama um einen Lehrer, der sich einer fälschlichen Missbrauchsanklage gegenübersieht
Viele (Ur-)Altmeister – keine Frauen!
Erneut im Wettbewerb ist der ebenfalls bereits mit der Goldenen Palme ausgezeichnete 70-jährige Michael Haneke («Das weisse Band», 2009). Sein «Amour» handelt von einem alten Musiklehrerpaar; in der Hauptrolle Jean-Louis Trintignant sowie Isabelle Huppert und Emmanuelle Riva. Letztere spielte im legendären «Hiroshima, mon amour», der 1959 im Wettbewerb in Cannes gezeigt wurde. Dies sei deshalb erwähnt, weil dessen Regisseur, der 90-jährige Alain Resnais, 2012 ebenfalls wieder im Wettbewerb steht: mit «Vous avez encore rien vu» (in einer der Hauptrollen: Sabine Azéma, die seit 1998 mit Resnais verheiratet ist).
Überhaupt sind die Senioren unter den Cineasten sehr gut vertreten: der 76-jährige Ken Loach, der 2006 eine Goldene Palme erhielt, kehrt mit «The Angel's Share» zum 11. Mal in den Wettbewerb zurück. Der Iraner Abbas Kiarostami, 72 und ebenfalls schon mit der Goldenen Palme gekrönt, reist mit «Like Someone in Love» nach Cannes, während der 69-jährige David Cronenberg «Cosmopolis» mit Juliette Binoche präsentiert. Obwohl im vorletzten Jahr die Tatsache, dass keine einzige Regisseurin im Wettbewerb vertreten war, für viel Aufruhr sorgte, ist man nach 2011, wo immerhin vier Frauen unter den 20 Wettbewerbsfilmen figurierten (weshalb Cannes bereits zum «Frauenfestival» gelabelt wurde!) wieder zum reinen Männerclub zurückgekehrt: Von den 23 Filmen im Wettbewerb stammt auch dieses Jahr kein einziger von einer Frau!
Entdeckungen in Nebensektionen
So bleibt es vor allem den anderen Sektionen vorbehalten, dies etwas aufzumischen – etwa in der Reihe Un Certain Regard (der Gerechtigkeit halber sollen im Folgenden die Frauen im Vordergrund stehen): Sylvie Verheyde präsentiert «Confession of a Child of the Century» (mit Charlotte Gainsbourg und Peter Doherty). Die Bosnierin Aida Begic zeichnet in ihrem «Children of Sarajevo» das Porträt von drei Kindern in der ex-jugoslawischen Stadt – während Catherine Corsini nach rund zehn Jahren («La répétition», 2001) es mit «Trois mondes» wieder nach Cannes schaffte, einer Art Krimi, der ein und denselben Vorfall aus der Sicht von Opfer, Täter, Zeuge schildert.
In der Quinzaine des Réalisateurs wird «Fogo» der 30-jährigen mexikanischen Regisseurin Yulene Olaizola über die fortschreitende Versteppung von Fogo Island gezeigt. Noémie Lvovsky (zurzeit in einer Nebenrolle von «Les adieux à la reine» zu sehen) präsentiert «Camille Redouble», in dem sie selbst mitspielt: In einer Art «back to the future» erzählt Lvovsky die Liebesgeschichte von Camille und Eric, die sich mit 16 kennen lernen, heiraten, ein Kind haben – während Eric sie 25 Jahre später wegen einer Jüngeren verlässt. Im Wissen darum und um 25 Jahre zurückversetzt, stellt der Film Camille vor die Frage, ob sie sich wieder für Eric entscheidet. In der Semaine de la Critique schliesslich gilt es, Alice Winocour zu entdecken mit «Augustine» – einem Liebesdrama, angesiedelt im legendären Hysterie-Spital La Salpêtrière –, und die Schauspielerin und Regisseurin Sandrine Bonnaire präsentiert das Beziehungsdrama «J'enrage de son absence».
Die offizielle Jury wird präsidiert vom italienischen Filmemacher Nanni Moretti. Über den Wettbewerb entscheiden Hiam Abbas, Andrea Arnold, Emmanuelle Devos, Diane Kruger, Jean Paul Gaultier, Ewan McGregor, Alexander Payne und Raoul Peck.
Das 65. Film Festival von Cannes wird am 16. Mai eröffnet und dauert bis 27. Mai 2012.
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