Viennale – Ein Festival der Festivalfilme. Von Walter Gasperi
Leichter als andere Festivals tut sich die Viennale mit der Filmauswahl, da es keinen Wettbewerb gibt und man auch auf Weltpremieren keinen allzu großen Wert legt. Der Auflauf an großen Stars hält sich somit zwar in Grenzen und, da kaum wirklich neue Filme gezeigt werden, auch das Ausmass des Medieninteresses. Für Filmfans freilich ist dieses Festival ein echtes El Dorado. Denn muss man bei anderen Festivals oft Höhepunkte wie die Stecknadel im Heuhaufen suchen und schleppt sich das Wettbewerbsprogramm in Berlin oder Locarno oft über Tage zäh dahin, bietet die Viennale mit ihrem „Best of“ des sich dem Ende zu neigenden (Film)-Jahres täglich mehr als einen Höhepunkt.
Da kann man dann um elf Uhr Vormittag mit dem meditativen „The Anchorage“ starten, der in seiner Schilderung des Alltags einer einsam auf einer schwedischen Insel lebenden Frau mit seinem Vertrauen auf Farben und Naturgeräusche zu einem wahren Augen- und Ohrenöffner werden kann. Um 13 Uhr kann man sich „Fish Tank“ zu Gemüte führen, in dem Andrea Arnold in bestem britischen Sozialrealismus und unterstützt von einer grossartigen Katie Jarvis in der Hauptrolle packend das Porträt eines orientierungslosen Teenagers zeichnet. Weiter geht es beispielsweise mit Brillante Mendozas „Lola“. Mit grösster Empathie zeichnet der philippinische Regisseur darin mit dokumentarischem Gestus, der Erinnerungen an den italienischen Neorealismus weckt, die Not und die Trauer von zwei alten Frauen: Die eine hat ihren Enkel durch einen Mord verloren und kann sich kaum die Bestattung leisten, die andere ist die Grossmutter des Täters, kümmert sich rührend um den Inhaftierten, aber kann sich keinen Pflichtverteidiger leisten, sodass sie – auf den Philippinen ist das möglich - einen aussergerichtlichen Vergleich mit der Oma des Opfers anstrebt.
Und am Abend folgt dann noch mit „White Material“ Claire Denis faszinierende Auseinandersetzung mit dem Ende des Kolonialismus und afrikanischer Gewalt. Die Liste der Highlights lässt sich fast beliebig erweitern. Mit grosser Konsequenz und Geschlossenheit erzählt beispielsweise der Chilene Sebastian Silva in „La nana“ von einer Hausangestellten, die subtil gegen die Ausbeutung zu rebellieren beginnt, und Nobuhiro Suwa und Hippolyte Girardot vermitteln – unterstützt von einer wunderbaren Noe Sampy in der Hauptrolle - eindringlich, wie sehr Kinder unter der Trennung ihrer Eltern leiden und wie fremd ihnen das Verhalten der Erwachsenen ist. Von Jacques Audiards packendem in Cannes preisgekröntem Gefängnisfilm „Un prophéte“ bis zu Volker Koepps neuer Erkundung der Region nördlich von Berlin in „Berlin – Stettin“ spannte sich der Bogen des Programms der Viennale, das sich auch heuer wieder als ungemein vielfältig und reich erwies.
(Walter Gasperi)
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