Unter Palmen mit Nazis und Bibern - Schlussbericht vom 64. Filmfestival von Cannes. Von Hans Jürg Zinsli

Unter Palmen mit Nazis und Bibern - Schlussbericht vom 64. Filmfestival von Cannes. Von Hans Jürg Zinsli

Ein Mann im weissen Smoking erspäht auf dem Roten Teppich in Cannes den zu seiner Ehrengala angereisten Jean-Paul Belmondo, schlägt vor dem Festivalpalast einen Salto die Treppe runter - und wird von Sicherheitskräften überwältigt. Diese Stunteinlage war eine der seltenen Kuriositäten, die es während des 64. Filmfestivals von Cannes zu bestaunen gab. Doch dann kam Lars von Trier.

Das dänische Enfant terrible liess in seinem Wettbewerbsbeitrag „Melancholia“ einer depressiven Braut (Kirsten Dunst) einen Meteoriten auf den Kopf fallen und unterlegte das Ganze mit Wagner-Fanfaren. Das erinnerte manchmal an die bildstarken Eröffnungstableaus aus „Breaking the Waves“, zeigte einen Aufwärtstrend nach zuletzt verschrobenen Werken wie „Antichrist“, wog aber in erzählerischer Hinsicht doch nicht allzu viel.

Lars von Trier und Mel Gibson
Dafür kam es an der dazugehörigen Pressekonferenz umso dicker. Von Trier, nach seiner deutschen Herkunft gefragt, nannte sich einen Nazi und Hitler-Versteher, worauf ihn das Festival prompt zur „persona non grata“ erklärte. Ein Skandal? Ja. Aber auch eine Überreaktion des Festivals, das den Regisseur nicht anhörte, zudem eine Bankrotterklärung von Triers, der sich vor Selbstentgleisungen nicht mehr zu schützen weiss, und nicht zuletzt eine Unterlassungssünde von Moderator Henri Béhar, der in kritischen Lagen stets eingreift, hier aber schwieg.

So geht eine 27-jährige Liebesbeziehung zwischen von Trier und Cannes abrupt zu Ende. Was bleibt, sind Fragen. Zum Beispiel die, weshalb bei Hollywoodstar Mel Gibson vor Festivalbeginn nicht dieselben Regeln zur Anwendung kamen. Der für seine antisemitischen Tiraden und alkoholbedingten Ausraster berüchtigte Star darf sich stattdessen als grösster Nutzniesser des Festivals wähnen: In Jodie Fosters Familiendrama „The Beaver“ verkörpert Gibson einen depressiven Familienvater, der sich mit Hilfe einer Biber-Handpuppe selbst therapiert – für manche ist das der gelungene Versuch einer realen Vergangenheitsbewältigung. Tatsächlich wurde in Cannes aber wahrscheinlich bloss ein alter Sündenbock gegen einen neuen getauscht.

Starpower an der Croisette
Frei von Skandalen blieben am diesjährigen Festival die Topstars – und davon marschierte eine Vielzahl auf: Johnny Depp alias Jack Sparrow kehrte nach vierjähriger Freibeuterabsenz mit „Pirates of the Caribbean: On Stranger Tides“ zurück und begeisterte mit dem neuen Co-Star Penelope Cruz die Massen. Angelina Jolie und Brad Pitt liessen sich ebenfalls an der Croisette blicken – mit unterschiedlichen Werken im Gepäck: Während Jolie für die eher lahme Fortsetzung des Animationsfilms „Kung Fu Panda 2“ abseits des Festivals die Werbetrommel rührte, legte sich Pitt für den Wettbewerbsbeitrag „The Tree of Life“ von Terrence Malick sowohl als Darsteller als auch als Koproduzent mächtig ins Zeug.

Der in den 50er Jahren spielende Film handelt von einer gutbürgerlichen US- Familie, die einen von drei Söhnen verloren hat, und forscht dabei nach den Gegensätzen zwischen Natur und Güte. Dazu dient nicht zuletzt ein längerer Spezialeffekt-gespickter Exkurs zur Entstehung der Erde. Herausgekommen ist ein bedeutungsschwangeres Gemisch aus irdischen und kosmischen Schwingungen à la „2001: A Space Odyssey“, ein cineastischer Gottesdienst (Stichwort: Hiob), untermalt von elegischen bis hymnischen Klängen von Brahms, Bach und Berlioz.

Almodovar, Maïwenn und Kaurismäki
Zu einer bemerkenswerten erzählerischen Geschmeidigkeit zurückgefunden hat der 61-jährige Pedro Almodovar. Seine schöne Bildertapete in „La piel que habito“ trügt jedoch: Hinter der Makellosigkeit verbirgt sich ein Thriller voller Gewaltakte, da ein Hauttransplantations-Chirurg (Antonio Banderas) dem Vergewaltiger seiner Tochter mit letzter Konsequenz zu Leibe rückt.

Noch kompromissloser ging die 35-jährige Französin Maïwenn in „Polisse“ zu Werk. Sie zwingt dem Zuschauer den Alltag einer Polizei-Kinderschutzeinheit auf – und das in so radikal verdichteten Szenen, dass einem vor lauter Gebrüll, Anspannung und Nervenflattern oft die Luft weg bleibt.

Etwas geruhsamer nahm es der 54-jährige Aki Kaurismäki: „Le Havre“ mag nicht sein bestes Werk sein, doch die Geschichte um einen alten Schuhputzer, der sich zusammen mit seinem Freundeskreis um einen jungen afrikanischen Immigranten kümmert, ist hochaktuell und in märchenhafter Schlichtheit wunderbar lakonisch erzählt.
(Hans Jürg Zinsli)

     
  PREISE 2011  
FEATURE FILMS    
Palme d'Or Grand Prix Ex-aequo  
THE TREE OF LIFE
Terrence MALICK
BIR ZAMANLAR ANADOLU'DA (ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA)
Nuri Bilge CEYLAN
 
  LE GAMIN AU VÉLO (THE KID WITH A BIKE)
Jean-Pierre et Luc DARDENNE
 
     
Award for Best Director Award for Best Screenplay  
Nicolas WINDING REFN
DRIVE
Joseph CEDAR
HEARAT SHULAYIM (Footnote)
 
     
Award for Best Actress Award for Best Actor  
Kirsten DUNST
in MELANCHOLIA von Lars VON TRIER
Jean DUJARDIN
in THE ARTIST von Michel HAZANAVICIUS
 
     
Jury Prize    
POLISSE (POLISS)
MAÏWENN
   
     
SHORT FILMS  
Palme d'Or - Short Film Jury Prize - Short Film
CROSS (CROSS - COUNTRY)
Maryna VRODA
BADPAKJE 46 (SWIMSUIT 46)
Wannes DESTOOP
   
UN CERTAIN REGARD    
Prize of Un Certain Regard Ex-aequo Un Certain Regard Special Jury Prize Directing Prize of Un Certain Regard
ARIRANG
KIM Ki-Duk
ELENA
Andrey ZVYAGINTSEV
BÉ OMID É DIDAR
Mohammad RASOULOF
HALT AUF FREIER STRECKE
Andreas DRESEN
   
     

CINEFONDATION    
1st Prize Cinéfondation 2nd Prize - Cinéfondation 3rd Prize Cinéfondation
DER BRIEF
Doroteya DROUMEVA
DRARI
Kamal LAZRAQ
YA-GAN-BI-HANG (FLY BY NIGHT)
SON Tae-gyum

Quelle: www.festival-cannes.com

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