Schlussbericht zu den 47. Solothurner Filmtagen. Von Andrea Lüthi. Mit allen Preisen der 47. Solothurner Filmtage und Nominationen für den Schweizer Filmpreis Quartz
Noch nie wurden so viele Kinoeintritte verkauft wie an den diesjährigen Solothurner Filmtagen, erstmals unter der neuen Direktorin Seraina Rohrer. Filme zu folkloristischen Themen waren im Programm stark vertreten, doch fand auch eine Auseinandersetzung mit Politik und gesellschaftlichen Problemen statt. Und immer wieder war da der Blick in Welten, die sich der schnelllebigen Zeit widersetzen.
In der modernen Gesellschaft wird der Ruf nach Entschleunigung immer lauter. Vielleicht ist es kein Zufall, dass an den Solothurner Filmtagen auffallend viele Filme von Menschen handelten, die fernab von Hektik leben – bewusst oder unbewusst. Sie lasse sich keinen fremden Rhythmus vorgeben, sagt ein Betreuer über die 60-jährige taubblinde Ursula in Rolf Lyssys Dokumentarfilm „Ursula – Leben in Anderswo“. Lyssy schildert auf berührende Weise Ursulas Zusammenleben mit ihrer Pflegemutter, die mit eindrücklicher Geduld und Sensibilität während über fünf Jahrzehnten den Zugang zu Ursulas eigener stillen Welt gefunden hat. Hier, wie in Ramòn Gigers Dokumentarfilm „Eine ruhige Jacke“, musste sich der Zuschauer auf eine bedeutend langsamere Gangart einlassen: Der autistische Roman ist manchmal minutenlang in den Anblick eines Asts oder eines Haars versunken, und Giger lässt einen unmittelbar an Romans Mikrokosmen teilhaben, indem er zum Teil seinem Protagonisten - auf dessen ausdrücklichen Wunsch – die Kamera übergab.
Sehnsucht nach Natur und Ruhe?
Wie immer stark vertreten und deswegen oft kritisiert, waren Filme, die sich ländlichen Gegenden der Schweiz widmen – da ging es um Schweizer Bräuche wie das Silvesterklausen (Thomas Lüchingers „Guets Neus – Schöö, wüescht ond schööwüescht“ oder Thomas Rickenmanns „Silvesterklausen“), um das Schwingen (This Lüschers „Hoselupf – Oder wie man ein Böser wird“) oder den Kuhkampf (Nicolas Steiners „Kampf der Königinnen“).
Man mag in der Häufung an Filmen über Urschweizerisches eine Sehnsucht sehen nach Beschaulichkeit und Natur. Doch ging es dabei weniger ums Verklären, sondern um Verstehen und Ergründen. So versuchte etwa Bernhard Giger in „Herz im Emmental“ einen Mythos zu erforschen. Was die Faszination des Emmentals ausmacht, wurde zwar nicht klar, aber dass aus dem Emmental nicht nur „Uli der Knecht“ stammt, sondern auch Shakra, die erfolgreichste Schweizer Hardrock-Band, deren Musik so gar nicht zur lieblichen Landschaft passen mag.
Bruno Moll wiederum gab in „Alpsegen“ Menschen eine Stimme, die leise und zurückgezogen leben. Wenn die fünf Sennen über ihr Verhältnis zu Religion, Natur und zur Welt sprechen, klingt das nicht romantisch, sondern pragmatisch. „Bei viel Schnee denke ich, wer ihn gebracht habe, holt ihn auch wieder“, sagt etwa lakonisch der Nidwaldner Senn auf die Frage nach seiner Beziehung zur Natur.
Mit „Die Wiesenberger“ von Bernhard Weber und Martin Schilt gewann denn auch ein Werk aus der folkloristischen Ecke den Publikumspreis. Gerade hier aber wird Tradition in die Moderne überführt. Der Dokumentarfilm handelt von einem unbekannten Jodlerklub, der plötzlich die Hitparade erklomm und ins Showbusiness gelangte.
Orientierungslosigkeit und Gewalt
Dass Berge nicht immer Kulisse sind für Idylle und Frieden verdeutlichte Sebastian Kutzlis Spielfilm „Puppe“: Ein Strassenmädchen aus Duisburg kommt nach der Ermordung ihrer Freundin zu einer Therapeutin in die Walliser Berge und trifft dort ausgerechnet auf die Mörderin ihrer Freundin – ein etwas arg konstruierter Alptraum mit Happyend.
Jugendgewalt und Orientierungslosigkeit waren auch Thema in anderen Filmen. Da gab es auch sehr Städtisches zu sehen, so den schonungslosen Spielfilm „Mary & Johnny“ von Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal, der am Zürifest spielt und sich an Ödön von Horvaths „Kasimir und Karoline“ anlehnt. Johnnys Freund erzählt die Geschichte von Missbrauch, Drogen und einer zerbrochenen Beziehung aus dem Off – herrlich zynisch, das Verhalten der Figuren ständig kommentierend.
Bei Greg Zglinskis neuem Film waren die Erwartungen hoch nach seinem herausragenden Erstling „Tout un hiver sans feu“. Auch mit „Courage“ überzeugte Zglinksi – einem eindringlichen, intensiven Film über Schuldgefühle: Ein Mann wird von Jugendlichen lebensgefährlich verletzt und aus dem Zug geworfen, während sein Bruder tatenlos zusieht.
Auch Alain Godets Dokumentarfilm „Narben der Gewalt“ regte an, über Schuld und Vergeben nachzudenken, wobei der Regisseur mit seinen Suggestivfragen manchmal etwas zu dominant auftrat: Vier Männer um die vierzig, die in den 90er-Jahren FC-Basel-Fans und brutale Schläger waren, blicken zurück bis in ihre Kindheit. Da gibt es herzzerreissende Momente, doch hinterliess der Film gemischte Gefühle.
Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Politik und Wirtschaft
Daneben gab es mehrere Filme, die sich mit der Schweizer Geschichte („Der Verdingbub“ oder „De la cuisine au parlement“ über das Frauenstimmrecht) befassen oder sich kritisch mit Wirtschaft und Politik auseinandersetzen („Bottled Life – Nestlés Geschäfte mit Wasser“ oder „Hunger – Genug ist nicht genug“). Einer dieser Filme gewann auch den Hauptpreis der Jury: „Vol spécial“ von Fernand Melgar berichtet unaufdringlich beobachtend, aber gerade deshalb erschütternd über Sans-papiers und Asylsuchende, die in einem Gefängnis auf ihre Ausschaffung warten – die notfalls mit Gewalt durchgeführt wird.
Neben Filmen mit grossem Medieninteresse wie dem Eröffnungsfilm „Eine wen iig, dr Dällebach Kari“ von Xavier Koller oder „Der böse Onkel“ und oft hoffnungslos ausgebuchten Vorstellungen gab es auch zahlreiche Nebenveranstaltungen, wo sich Perlen entdecken liessen. Im Rahmen der Filmmusikkompositionen der Zürcher Hochschule der Künste wurde etwa der Kurzanimationsfilm „De Roni“ gezeigt, eine höchst amüsante Parodie von Andrea Schneider über einen coolen Szenegänger.
(Andrea Lüthi)
Preise der 47. Solothurner Filmtage | Nominationen für den Schweizer Filmpreis Quartz 2012 |
Prix de Soleure Vol Spécial, Fernand Melgar, doc 100' |
Bester Spielfilm ABRIR PUERTAS Y VENTANAS, Milagros Mumenthaler, Alina film DER VERDINGBUB, Markus Imboden, C-Films EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI, Xavier Koller, Catpics HELL, Tim Fehlbaum, Vega Film SUMMER GAMES, Rolando Colla, Peacock Film |
Prix du Public Die Wiesenberger, Bernard Weber, Martin Schilt, doc 89' |
Bester Dokumentarfilm BALKAN MELODIE, Stefan Schwietert, maximage DAY IS DONE, Thomas Imbach, Okofilm Productions MESSIES, EIN SCHÖNES CHAOS, Ulrich Grossenbacher, Fair & Ugly filmproduktion THE SUBSTANCE, Martin Witz, ventura film VOL SPÉCIAL, Fernand Melgar, Climage |
Prix Pathé - Preis der Filmpublizistik
Elektronische Medien |
Bester Kurzfilm BAGGERN, Corina Schwingruber Ilic, Minerva CHASSE À L'ÂNE, Maria Nicollier, REC Production DU&ICH, Esen Isik, maximage EMILE DE 1 À 5, Lionel Baier, Rita Productions L'AMBASSADEUR & MOI, Jan Czarlewski, ECAL |
Preis der Gemeinden im Wasseramt Christian Schocher, Regisseur und Kinobetreiber |
Bestes Drehbuch Plinio Bachmann, DER VERDINGBUB Tim Fehlbaum, HELL Rolando Colla, Pilar Anguita-McKay, SUMMER GAMES |
Upcoming Talent: Nachwuchspreis SUISSIMAGE/SSA «La Noyée» von Vincent Weber, 2011, 12 Min. |
Beste Darstellerin Lisa Brand (Berteli), DER VERDINGBUB Stephanie Glaser (Marguerite) MOTEL Carla Juri (Annemarie Geiser) EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI |
Upcoming Music Clips: Jurypreis «Hailey Fought the Law» (Blanket) von Piet Baumgartner, 2011, 2 Min. |
Bester Darsteller Nils Althaus (Kari Dällebach), EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI Saladin Dellers (Sascha), SILBERWALD Max Hubacher (Max), DER VERDINGBUB |
Gewinner Publikumspreisse SUISSIMAGE / SSA 1. Platz: «Gypaetus Helveticus» von Marcel Barelli 2. Preis: «Bon Voyage» von Fabio Friedli 3. Preis: «Borderline» von Dustin Rees |
Beste Darstellung in einer Nebenrolle Stefan Kurt (Bösiger), DER VERDINGBUB Hanspeter Müller-Drossaart (Kari Dällebach), EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI Marcus Signer (Mischa), MARY & JOHNNY |
Wettbewerb «Upcoming Lab» Jurypreis: «Die Schafmacher» von Thaïs Odermatt Publikumspreis: «Swiss Maker» von Raphaël Tschudi |
Beste Filmmusik Peter Bräker, Balz Bachmann, DAY IS DONE Ben Jeger, DER VERDINGBUB Balz Bachmann, EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI |
Schweizer Fernsehfilmpreise Lea Hadorn - Weibliche Hauptrolle in «Liebe und andere Unfälle» Roland Vouilloz - Männliche Hauptrolle in der Serie CROM Marina Golovine - Weibliche Nebenrolle in der Serie CROM Peter Wyssbrod - Männliche Nebenrolle in «Mord hinterm Vorhang» |
Beste Kamera Felix von Muralt, EINE WEN IIG, DR DÄLLEBACH KARI Ramòn Giger, OFF BEAT Lorenz Merz, SUMMER GAMES |
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