Schlussbericht vom 63. Filmfestival Cannes. Von Hans Jürg Zinsli

Schlussbericht vom 63. Filmfestival Cannes. Von Hans Jürg Zinsli

Was haben Hollywood-Star Sean Penn und Ex-Bondgirl Gemma Arterton, die Regisseure Jean-Luc Godard und Ridley Scott gemeinsam? Sie alle blieben dieses Jahr dem Filmfestival von Cannes fern, obwohl ihre Filme hier Premiere feierten. Eine solche Abwesenheitsliste ist natürlich alles andere als üblich für die Grande Dame unter den Filmfestivals, welche als Starplattform und Hort der Autorenfilmer nur das Beste vom Besten gewohnt ist.

Gibts nach der weltweiten Finanzkrise und der Filmkrise in Hollywood nun auch eine Festivalkrise an der Côte d’Azur? Natürlich nicht. Zwar lag dieses Jahr rund um die Croisette spürbar weniger Power in der Luft, die Branchenmagazine erschienen dünner, die Reklamen kleiner, die Partys bescheidener. Ja, sogar die Rindsfilets auf den Tellern der Croisette-Restaurants schienen mitunter arg geschrumpft.

Kurioses und sehenswerte Filme

Doch es gab auch gewohnt Kurioses zu sehen. Gellende Marktschreier, lebende Ritterrüstungen, praktische Hunde-Babywagen und Anbieter von „Free Hugs“ (kostenlose Umarmungen) paradierten vor dem Festivalbunker. Regisseur Quentin Dupieux („Rubber“) rollte einen Autoreifen auf den Roten Teppich. Altstar Alain Delon verdrückte eine Träne bei der Wiederaufführung von „Il Gattopardo“. Und Partyluder Lindsay Lohan soll irgendwo zwischen zwei Drinks ihren Pass verloren haben.

Doch nicht nur bei den Schauwerten, auch bei der Filmauswahl konnte Cannes 2010 mit früheren Jahrgängen mithalten. Der grosse Unterschied: Anstelle eines herausragenden Meisterwerks, das alle andern überstrahlte, gabs quer durch alle Programmreihen eine Vielzahl ergreifender, unterhaltsamer, provokativer und erschütternder Werke zu sehen.

Mönche in Algerien und Höllenfahrten

Im Wettbewerb berichtete Xavier Beauvois („Des hommes et des dieux“) in besonnener Art von einer Gruppe von Mönchen, die sich 1996 in Algerien gegenüber islamischen Fundamentalisten zu behaupten versuchten – und scheiterten. Der Iraner Abbas Kiarostami liess in seinem ersten ausserhalb der Heimat gedrehten Werk („Copie Conforme“) Juliette Binoche und Opernsänger William Shimell in ein Liebesabenteuer in der Toskana mit abgekupferten Dialogen schlittern. Der Ukrainer Sergei Loznitsa wiederum schickte in „Schastye Moe“ („My Joy") einen jungen Lastwagenfahrer in eine postkommunistische Hölle voller Stummheit und Gewalt. Und der Mexikaner Alejandro González Iñárritu („Biutiful“) gewann aus dem überragend aufspielenden Javier Bardem das Porträt eines Kleinkriminellen in Barcelona, der kurz vor seinem Krebstod – vergeblich – seinen Nachlass zu regeln versucht.

Für den heftigsten Ausschlag auf der Emotionsskala sorgte jedoch kein Film im Wettbewerb, sondern das Knastdrama „Picco“ des deutschen Philip Koch, das in der Nebenreihe „Quinzaine des réalisateurs“ lief. „Picco“, mit dem Schweizer Schauspieler Joel Basman in einer tragenden Rolle, führte zum wohl grössten Zuschauer-Exodus des diesjährigen Festivals. Tatsächlich war die inhaltlich und formal strenge Innenaufnahme eines Jugendgefängnisses, in dem sich vier Insassen bis zum finalen Foltermord bekriegen, vor lauter Psychoterror kaum auszuhalten.

Neues von Godard und Jean-Stéphane Bron

Und wie schlugen sich die Schweizer? Sowohl Jean-Luc Godards „Film Socialisme“ wie Jean-Stéphane Brons „Cleveland vs. Wall Street" ernteten zwar vor vollen Rängen Applaus, dennoch blieben Fragezeichen. Godard reihte in „Film Socialisme“ einmal mehr optische und akustische Fetzen, Fragmente und Zitate aneinander – eingefangen hauptsächlich auf einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer und an einer lärmigen Tankstelle. Der 79-Jährige - in Frankreich als Schöpfer der Nouvelle Vague nach wie vor gottgleich verehrt – präsentierte damit einen Spielfilm im Gestus eines Dokumentarfilms. Wundern durfte man sich trotzdem, weshalb dieses Experimentalmonster, das sich fortlaufend selbst sabotierte, in der Festival-Nebenreihe „Un certain regard“ lief. Kam hinzu, dass der Regisseur Cannes fernblieb; die entsprechende Pressekonferenz wurde fünf Minuten vor Beginn abgesagt.

Verständlicher und mutiger fiel der zweite Schweizer Beitrag aus: Regisseur Jean-Stéphane Bron („Mais im Bundeshuus“) zog es für „Cleveland vs. Wall Street“, der in der „Quinzaine“ lief, in den Gerichtssaal. Der Hintergrund: Die von der Finanzkrise hart getroffene US-Grossstadt Cleveland (über 20 000 Familien verloren dort wegen „Subprime“-Wucherkrediten ihr Heim) klagte gegen 21 Grossbanken. Doch die Wall-Street-Anwälte verhinderten bislang den Gang vor Gericht. In der Folge liess Bron einen Showprozess nachstellen – mit den „richtigen“ Anwälten, Geschworenen und Zeugen. So wirkte „Cleveland vs. Wall Street“ wie das formale Gegenstück zu Godards Werk – ein Dokumentarfilm mit Spielfilm-Touch, der Wahrheitssuche aus der Underdog-Perspektive betrieb. Einziger Schwachpunkt: Bron befragte zu viele Zeugen, der Film bot zu wenige Schauwerte. Dass auch das Publikum grössere Emotionen vermisste, zeigte das rhythmische Klatschen zu Bruce Springsteens Gassenhauer „Pay Me My Money Down“ während des Abspanns.
(Hans Jürg Zinsli)

AWARDS 2010

festival-cannes.com

FEATURE FILMS
Palme d'Or
LUNG BOONMEE RALUEK CHAT (Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives) directed by Apichatpong WEERASETHAKUL

Grand Prix
DES HOMMES ET DES DIEUX (OF GODS AND MEN) directed by Xavier BEAUVOIS

Award for Best Director
Mathieu AMALRIC for TOURNÉE (ON TOUR)

Award for Best Screenplay
LEE Chang-dong for POETRY

Award for Best Actress
Juliette BINOCHE in COPIE CONFORME (CERTIFIED COPY) directed by Abbas KIAROSTAMI

Award for Best Actor Ex-aequo
Javier BARDEM in BIUTIFUL directed by Alejandro GONZÁLEZ IÑÁRRITU
Elio GERMANO in LA NOSTRA VITA (OUR LIFE) directed by Daniele LUCHETTI

Jury Prize
UN HOMME QUI CRIE (A screaming man) directed by Mahamat-Saleh HAROUN

 

SHORT FILMS
Palme d'Or - Short Film
CHIENNE D'HISTOIRE (BARKING ISLAND) directed by Serge AVÉDIKIAN

Jury Prize - Short Film
MICKY BADER (BATHING MICKY) directed by Frida KEMPFF

 

UN CERTAIN REGARD
Un Certain Regard Prize - Groupama Gan Foundation for Cinema
HAHAHA directed by HONG Sangsoo

Jury Prize - Un Certain Regard
OCTUBRE (OCTOBER) directed by Daniel VEGA, Diego VEGA

Un Certain Regard Award for Best Actress
LOS LABIOS (THE LIPS) played by Victoria RAPOSO, Eva BIANCO, Adela SANCHEZ

 

CINEFONDATION
1st Prize Cinéfondation
TAULUKAUPPIAAT (THE PAINTING SELLERS) directed by Juho KUOSMANEN

2nd Prize - Cinéfondation
COUCOU-LES-NUAGES (Anywhere out of the world) directed by Vincent CARDONA

3rd Prize Cinéfondation Ex-aequo
HINKERORT ZORASUNE (THE FIFTH COLUMN) directed by Vatche BOULGHOURJIAN
JA VEC JESAM SVE ONO ŠTO ŽELIM DA IMAM (I ALREADY AM EVERYTHING I WANT TO HAVE) directed by Dane KOMLJEN

 

GOLDEN CAMERA
Caméra d'or
AÑO BISIESTO directed by Michael ROWE

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