Schlussbericht über den Wettbewerb am 66. San Sebastián International Film Festival (SSIFF)

Vom Elend dieser Welt
Die Hauptpreise des diesjährigen Filmfestivals San Sebastián, die „Goldene Muschel“ und der „Jurypreis“ gingen an das spanische Sozialdrama „Entre Dos Aguas“ und den philippinischen sozialkritischen Gangsterfilm „Alpha, the Right to Kill“. Der grosse Abräumer aber war das argentinische Epochendrama „Rojo“, das gleich drei Preise erhielt.

Die grosse Veränderung am diesjährigen Filmfestival San Sebastián war ein rundum erneuerter Auftritt. Das traditionelle Festivalsymbol, die Muschel, ist nur noch als Umriss präsent und aus dem früheren „Festival International del Cine de San Sebastián“ ist jetzt das „San Sebastián International Filmfestival“ geworden – wobei dessen omnipräsentes neues Kürzel, „SSIFF“, nur für Deutschsprachige etwas unglücklich gewählt erscheint. Akkustisch wurde in diesen vergangenen neun Tagen der neue Look musikalisch schwungvoll untermalt mit einem Festivaltrailer, der die letzten paar Takte von „Bearcat Rumble“ intonierte. Die an Benny Goodman erinnernde Neo-Swingnummer von John Rowcroft mit ihrem eingängigen Rhythmus wurde vom Publikum vom Festivalbeginn weg Tag für Tag mit fröhlichem Mitklatschen rituell abgefeiert. Die so zur Schau gestellte Fröhlichkeit, die zu weiten Teilen auch den Eröffnungsfilm kennzeichnete, die enttäuschend langfädige romantische Komödie „El Amor Menos Pensado“ des Argentiniers Juan Vera - mit einem blass agierenden Ricardo Darín als Hauptdarsteller – war ein starker Kontrast zur Mehrheit der 18 Wettbewerbsfilme. Diese präsentierten, vor allem was die prämierten Beiträge betrifft, ein düsteres Bild unserer Gegenwart.

   

„Das einzige, was es hier gibt, sind Drogen, Tod oder das Gefängnis“, bringt etwa der Protagonist Isra (Israel Gómez Romero) aus „Entre Dos Aguas“ einmal die Situation auf den Punkt, in der er und die anderen Gitanos hier in San Fernando de Cádiz leben, in einer der ärmsten Ecken Andalusiens, wo der semidokumentarische Film gedreht wurde. Der Titel des mit der „Goldenen Muschel“ ausgezeichneten Films von dem katalanischen Regisseurs Isaki Lacuesta nimmt Bezug auf eines der bekanntesten Stücke des 2014 verstorbenen Flamenco-Gitarristen Paco de Lucía, verzichtet dabei aber auf jegliche Romantisierung des angeblich so freien Lebens der Gitanos. Davon ist in „Entre Dos Aguas“ tatsächlich nichts zu sehen, man muss sich als Zuschauer erst daran gewöhnen, dass man sich angesichts der elenden Hütten an der Flussmündung im EU-Land Spanien und nicht irgendwo im Slum einer Stadt in einem arabischen Land befindet. In einem Mix aus Dokumentation und Fiktion greift Isaki Lacuesta in „Entre Dos Aguas“ zurück auf seinen 2006 entstandenen Film „La Leyenda del Tiempo“, einem – ebenfalls semidokumentarischen - Spielfilm um die Brüder Israel und Francisco „Cheíto“ Romez Gomero. Die beiden Gitanos aus San Fernando waren damals Jugendliche, der eine von ihnen wollte nach dem gewaltsamen Tod des Vaters unbedingt Flamencosänger werden – ein Traum, der sich nicht erfüllte. Zwölf Jahre später sind beide gestandene Männer, ersterer hat einen ungeliebten Job als Koch bei der spanischen Kriegsmarine, der andere, der eingangs erwähnte Isra, hat gerade eine langjährige Haftstrafe wegen Drogenhandels hinter sich und wird von seiner Frau aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen. Man verfolgt die Wege der beiden ungleichen Brüder und ihres Umfeldes mit grossem Interesse und erfuhr an der Pressekonferenz zum Film, dass die Geschichte von Cheito, dem Koch, real ist, während Isra in Wirklichkeit nie wegen Drogendelikten im Knast sass. Hier begab Isaki Lacuesta sich frei in fiktionale Gefilde und hat trotz solch eher fragwürdigem Vorgehen mit seinem Ensemble ais Laiendarstellern eine Art neorealistisches Sozialdrama geschaffen, das in seiner präzisen Milieuschilderung durchaus zu fesseln vermag, allerdings mit fast zweieinhalbstündige Dauer zu lang war. Isaki Lacuesta hatte die Goldene Muschel im Übrigen schon einmal, 2011, gewonnen. Damals hatte er mit „Los Pasos Dobles“ reüssiert, einem essayistischen Dokudrama um einen französischen Maler in Mali, der sich in Wahnvorstellungen verliert, er sei ein anderer Maler, der in einer früheren Epoche gelebt hatte. Im Vergleich zu jenem Film ist „Entre Dos Aguas“ weit weniger enigmatiach und sperrig, es bleibt zu hoffen, dass der Film auch in der Schweiz einen Verleih findet.

       

Gewalt, krud, sublimiert in der Komfortzone und athmosphärisch
Sozialdramatisch, wenn auch viel gewalttätiger, ging es schliesslich auch in „Alpha, the Right to Kill“ des von Brillante Mendoza zu und her. Der philippinische Starregisseur erzählt hier die Geschichte eines Polizeispitzels, der im Auftrag eines Kommandanten der Drogenpolizei mithelfen soll, einen Capo von Manilas Drogenmafia unschädlich zu machen. Auch dieser Film, nahe am Genre eines Gangsterfilms, tauchte mit seinem Mix aus Schauspielern und Laiendarstellern tief in ein Milieu, das man so noch kaum gesehen hat. Dabei kann man sich natürlich fragen, wie weit die guten Absichten des Regisseurs am Ende vor allem etwas hervorbrachten, was man böswillig auch „Elendsporno“ nennen könnte. Das ganze Elend der Welt, jedoch ganz in der Komfortzone einer europäischen Wohlstandsgesellschaft angesiedelt, vermittelte schliesslich ein Film aus Norwegen. „Blind Spot“, der Erstling der Regisseurin Tuva Novotny. Er erhielt zu Recht eine der „Silbernen Muscheln“, den Preis für die beste Darstellerin. Denn das was die junge Schauspielerin Tuva Novotny in dem mit Handkamera und in ganz wenigen Einstellungen gedrehten, kammerspielartigen Drama als Adoptivmutter einer pubertierenden Tochter während atemloser 98 Filmminuten verkörpert, ist grosse Klasse. In ihrer Figur, die sich unvermittelt mit dem Selbstmordversuch ihrer Tochter konfrontiert sieht - diese hat sich aus dem Fenster der Hochhauswohnung gestürzt und liegt nun im Spital zwischen Leben Tod – entwickelt sie eine unglaubliche Intensität im Bestreben den unaushaltbaren Schmerz der Ungewissheit aushalten und sich immer neuen Abgründen einer traumatischen Familiengeschichte stellen zu müssen. Waren diese Dramen in der Gegenwart angesiedelt, so blendete der mit drei Preisen (Regie, Kamera und Hauptdarsteller) ausgezeichnete Film „Rojo“ des Argentiniers Benjamin Naishtat gut vier Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit des südamerikanischen Landes. Mit der im Jahr 1975 spielenden Geschichte um einen zynischen Anwalt (von Dario Grandinetti hervorragend gespielt) evoziert Regisseur und Drehbuchautor Naishat in einer bisweilen enigmatischen Story und getragen von verwaschenen, grobkörnigen Bildern die Atmosphäre am Vorabend des Militärputsches von 1976. „Rojo“ führt so eindrücklich wie subtil vor, dass der dem Putsch folgende Staatsterrorismus ohne wesentlichen Beitrag durch Teile der Zivilgesellschaft unmöglich gewesen wäre. Repräsentant dieser Zivilgesellschaft ist dieser Anwalt, der ganz offen und mit Billigung seines Umfeldes als ausgemachter Faschist sich betätigen kann. Es war am Abschlussabend denn auch Dario Grandinetti (den man aus den frühen 1990ern noch als Latin Lover aus den Filmen eines Eliseo Subiela und später auch Pedro Almodóvar kennt), der eine flammende politische Rede hielt. Er erzählte, dass er im Gegensatz zum viel jüngeren Regisseur jene düsterste Epoche der argentinischen Geschichte noch selbst miterlebt habe und dass er „Rojo“ auch als Warnung verstanden wissen wolle vor faschistischen Tendenzen, die er an verschiedenen Orten auf der Welt feststellte.

     

Sperrigstes ging leer aus
Es sei kein Festivaljahrgang mit einer allseits gefälligen Auswahl an Wettbewerbsfilmen gewesen, erklärte José Luis Rebordinos zum Festivalende im Interview mit „El Diario Vasco“, der wichtigsten Tageszeitung des Baskenlandes. Und im Gespräch mit 451.ch zeigte er sich erfreut darüber, dass die im Vergleich zu früheren Festivaljahrgängen grössere Anzahl sperriger, unkonventioneller Filme im Wettbewerb beim Publikum und in der Fachwelt stark kontroverse Debatten provoziert hatte. Der Festivalleiter, der nun bereits seine achte Ausgabe bestritt, nannte in diesem Zusammenhang nicht die Gewinnerfilme, sondern „High Life“ von Claire Denis und „In Fabric“ von Peter Strickland. Ersterer war ein feministisch geprägtes Weltraum-Science-Fiction-Drama mit Juliette Binoche in der Hauptrolle (Binoche konnte man im Wettbewerb ausserdem auch noch in dem verrätselten Naturepos „Vision“ der Japanerin Naomi Kawase bewundern), letzterer ein überdrehter Spass um ein Warenhaus und ein mörderisches rotes Kleid, der in seinem anarchistisch-derben Humor gelegentlich an Monty Python erinnerte. Doch diese beiden Filme gingen bei den Preisvergaben so leer aus wie auch der Schweizer Beitrag, „Der Unschuldige“ von Simon Jaquemet, der in seiner konsequent Realität und Imagination verwischenden Erzählung um eine den Halt verlierende Forscherin (Judith Hermann) alles andere als leicht konsumierbare filmische Kost war.

   

Tanz der Gefühle
Mit dem Ex-Aequo-Preis für bestes Drehbuch an „Yuli“ von Icíar Bollaín und „L'Homme Fidèle“ von Louis Garrel wurden schliesslich andererseits zwei Werke ausgezeichnet, die im besten Sinn gefällig und dabei grosse Publikumlieblinge waren – und die bezüglich erzählerischer Raffinesse nichts zu wünschen übrig liessen. Bei „Yuli“, der Lebensgeschichte des berühmten kubanischen Balletttänzers Carlos Acosta hatte Drehbuchautor Paul Laverty mit unglaublichem Geschick den realen, heutigen Carlos Acosta mit Szenen aus seiner jüngsten Vergangenheit, gespielt vom Schauspieler und Tänzer Keyvin Martinez, sowie Archivmaterial mit dem realen Carlo Acosta verbunden und dabei ein unglaublich vielschichtiges Werk um künstlerische Risikobereitschaft geschaffen, das weit über ein herkömmliches Biopic hinausging. Und mit dem zweiten Drehbuchpreis, jenem an „L'Homme Fidèle“, wurde mit dem 87 jährigen Jean-Claude Carrière schliesslich eine Legende unter den Drehbuchautoren geehrt. Carrièrre hat beispielsweise die Skripts für sieben Filme von Luis Buñuel verfasst und er erweist sich hier zusammen mit dem 50 Jahre jüngeren Louis Garrel als Co-Autor (der gleich auch noch Protagonist im Film ist), als wahrer Meister in der Darstellung amouröser Wirren. Mit diesem raffiniert verspiegelten Beziehungsdrama mit Anleihen an Thriller und Komödie haben Carrièrre und Garrel den wohl leichtfüssigsten und charmantesten Film und damit einen idealen Kontrapunkt zur vorherrschenden Tendenz in diesem ganzen Wettbewerbs geschaffen.
(Geri Krebs)

   

Preise

Goldene Muschel für den besten Film Entre Dos Aguas
ES, Regie: Isaki Lacuesta
Silberne Muschel für die beste Regie Benjamín Naishtat
Rojo, AR/BE/BR/DE/FR/CH
Spezialpreis der Jury Alpha, The Right To Kill
PH, Regie: Brillante Mendoza
Silberne Muschel für die beste Schauspielerin Pia Tjelta
Blindspot, NO, Regie: Tuva Novotny
Silberne Muschel für den besten Schauspieler Dario Grandinetti
Rojo, AR/BE/BR/DE/FR/CH
Jurypreis für die beste Fotografie Pedro Sotero
Rojo, AR/BE/BR/DE/FR/CH, Regie: Benjamín Naishtat
Jurypreis für das beste Drehbuch Paul Laverty
Yuli, ES/CU/UK/DE, Regie: Icíar Bollaín
Publikumspreis Un Día Más De Vida / Another Day Of Life
ES/PL/BE/DE, Regie: Raúl De la Fuente, Damian Nenow
  Girl
BE/NL, Regie: Lukas Dhont
Jugendpreis Viaje Al Cuarto De Una Madre
ES/FR, Regie: Celia Rico Clavellino
Preis "Kutxa" Boku wa Iesu-sama ga kirai/ Jesus,
JP, Regie: Hiroshi Okuyama
Preis "Horizontes" Familia Sumergida
AR/BR/DE/NO, Regie: María Alche
Preis "Irizar" Oreina
ES, Regie: Koldo Almandoz
Preis "Cine en Construcción" Los Tiburones
UR/AR, Regie: Lucía Garibaldi
Preis "Glocal in Progress" Nematoma / Invisible
LT/LV/UA, Regie: Ignas Jonynas
FIPRESCI High Life
FR/DE/UK/PL/US, Regie: Claire Denis
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