San Sebstián 2015: Hauptpreis an "Exoten" und ein Jahr fast ohne Hollywoodstars - und trotzdem Publikumsrekord
Von Geri Krebs
Bei der Preisverleihung, mit der am vergangenen Samstagabend die 63. Ausgabe des Filmfestivals San Sebastián zu Ende ging, triumphierte mit der "Goldenen Muschel" ein Film aus einem "exotischen" Land ("Sparrows" aus Island), derweil eine der "Silbernen Muscheln" an jenen Film ging, der von Publikum und Kritik favorisiert worden war.
Es sei das lebhafteste Festival gewesen, das er in seinen mittlerweile fünf Jahren als Festivaldirektor erlebt habe und es sei auch sein bestes Jahr gewesen, erklärte José Luis Rebordinos am Tag nach dem Festival. Und dass auch in diesem Jahr wieder ein starker Publikumszuwachs stattgefunden hatte, das konnte man als Besucher hautnah in den vergangenen zehn Tagen selber erleben. Das Festival stösst an seine Kapazitätsgrenzen, und wie die Stadt am Golf von Biskaya nächstes Jahr dann die grosse Sause bewältigen wird, wenn sie "europäische Kulturhauptstadt" ist, kann man sich jetzt erst schwer vorstellen.
Doch das Festival steht trotz Erfolgsbilanz stark unter Druck, das zeigte sich am Tag vor der Festivaleröffnung etwa auf der Kulturseite von Spaniens wichtigster Zeitung, El País. Entgegen früherer Gepflogenheiten, da El País jeweils schon an diesem Tag ausführlich auf den bevorstehenden Grossanlass in San Sebastián einging, fand dort heuer erstmals und ausschliesslich ein anderes internationales Filmfestival statt: jenes in Toronto, das nicht nur für Venedig, sondern auch für das fast gleichzeitig stattfindende Festival von San Sebastián eine immer stärker werdende Konkurrenz darstellt, und das in diesem Jahr erstmals auch einen internationalen Wettbewerb hatte. So manifestierte sich denn die gestiegene Bedeutung Torontos für das Festival von San Sebastián etwa darin, dass in diesem Jahr keine grossen Hollywoodstars San Sebastian die Aufwartung machten - selbst dann nicht, wenn sie in einem Film der "Official Selection" liefen.
Julianne Moore war nicht da, und auch Ethan Hawke und Emma Watson bemühten sich nicht nach San Sebastián - und dies, obwohl erstere in dem rührenden Melodrama "Freeheld" von Peter Sollett, der im 17 Filme umfassenden Wettbewerb lief, die Hauptrolle spielte, und letztere beide als Protagonistenpaar im Eröffnungsfilm zu sehen waren, dem Psychothriller "Regression" des spanisch-chilenischen Regisseurs Alejandro Amenábar. Dafür aber machte Meister Amenábar erstmals in seiner über zwanzigjährigen Karriere dem Festival das Geschenk, hier die Weltpremiere eines neuen Films von ihm stattfinden zu lassen. Neben ihm waren aus der iberoamerikanischen Welt mit Leuten wie Ricardo Darín, Benicio del Toro oder Walter Salles Stars in San Sebastián anwesend, die beim hiesigen Publikum mit mindestens so viel Beliebtheit rechnen können wie ein Arnold Schwarzenegger oder Denzel Washington.
Überraschung bei den Preisen
Bezüglich Wettbewerb in der "Official Selection" wurde dieses Jahr von einigen Leuten bemängelt, dass es keinen wirklich herausragenden Beitrag gegeben habe - was nicht ganz falsch ist. Es schlug sich dann auch bei den Preisen nieder, denn nur ein einziger Film gewann Preise in mehr als einer Kategorie: Lucile Hadzihalilovics "Evolution" erhielt den Spezialpreis der Jury und den Preis für die beste Kamera. Doch darf man sich hier fragen, ob das nicht etwas stark nach einer Befriedigung der Frauenquote aussah: Lucile Hadzihalilovic war nämlich in der 22 Filme umfassenden "Official Selection" (davon 17 im Wettbewerb) die einzige Regisseurin(!) - und man kann sich fragen, ob ihr seltsamer Film um eine alptraumhafte Insel im Atlantik, wo Frauen an Knaben rätselhafte medizinische Experimente durchführen, tatsächlich gleich zwei Preise verdiente. Und ohne zu sehr weiter die Karte der Gendergerechtigkeit spielen zu wollen, kann man festellen, dass es auch im 14 Filme umfassenden Wettbewerb der "Nuevos Directores" nicht viel anders aussah: 2 Beiträge von Frauen. Beide gingen hier leer aus, und der Preis des Wettbewerbs der "Nuevos Directores" für "Le nouveau" des jungen Franzosen Rudi Rosenberg scheint aber durchaus gerechtfertigt. Denn die ungemein witzige Tragikomödie um fünf 14-jährige Aussenseiter an einer Pariser Schule strotzte vor Energie, bisweilen brachialem Humor und Spielfreude. Der Film - den der Regisseur in seiner kurzen Dankesrede anlässlich der Preisverleihung als "Hommage an Verlierertypen, und auch ich bin einer" bezeichnete - war auch eines der glänzendsten Beispiele für jene Thematik, die dieses Jahr bei auffallend vielen Filmen im Zentrum stand: Die Suche von Kindern oder jungen Menschen nach einem Platz in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Das galt besonders für den Gewinner der "Goldenen Muschel", den Film "Sparrows" des Isländers Rúnar Rúnarsson. Langsam, ruhig, aber gleichzeitig schonungslos erzählt Runarsson die Geschichte des 16-jährigen Ari. Seine Eltern sind geschieden und als seine Mutter mit ihrem neuen Partner eine lange Reise macht, schickt sie Ari aus der Hauptstadt Reykjavik zu seinem Vater in ein entlegenes Dorf an der Westküste Islands. Der Teenager taucht aus seiner urbanen, scheinbar heilen Umgebung plötzlich ein in eine dörfliche, trostlose Welt mit einem Vater, der ein Alkoholproblem hat und in der Drogen und Gewalt zwischen Jugendlichen alltäglich sind. Doch dabei ist "Sparrows" keineswegs nur hartes Sozialdrama, sondern vielmehr erzählt Regisseur und Drehbuchautor Rúnarsson mit fein entwickeltem Sinn für Zwischentöne von der langsamen Annäherung zwischen zwei Generationen und zwei Welten. Und er bezieht dabei die raue Natur des skandinavischen Inselstaates in spektakulären Tableaus mit ein in einem Film, von dem man nur hoffen kann, dass er auch in der Schweiz einen Verleiher finden möge.
Und wenn es auch das erste Mal in 63 Jahren Festivalgeschichte ist, dass ein Film aus Island die "Concha De Oro" gewinnt: der Erfolg für das isländische Kino am Festival von San Sebastián ist nicht gänzlich neu, hatte doch bereits vor zwei Jahren die irritzige Komödie "Of Horses And Men" von Benedikt Erlingsson den Preis als bestes Erstlingswerk im Wettbewerb der "Nuevos Directores" bekommen.
Was Filme mit jungen Menschen betrifft, die ihren Platz in der Welt suchen, so führte das in drastischer Weise schliesslich auch jener Film vor, der eine "Silberne Muschel" für die beste Schauspielerin gewann, "El Rey De La Habana" des Katalanen Agustí Villaronga. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Pedro Juan Gutiérrez aus dem Jahr 2001, dem kubanischen Schriftsteller, der ab Ende der 1990er Jahre Furore machte als "karibischer Charles Bukowski", zeigt Villarongas Film eine apokalyptisch anmutende Vision des Lebens in der kubanischen Hauptstadt. Es waren die härtesten Jahre Kubas, als nach dem Zusammenbruch des Sponsors namens Sowjetunion die Menschen auf ihr nacktes Überleben zurückgeworfen wurden. Und wo der in einem der ärmsten Viertel Havannas lebende 17-jährige, titelgebende Protagonist Rey, aus einem Jugendknast geflüchtet, Unterschlupf sucht bei der gut zehn Jahre älteren Gelegenheitsprostituierten Magda. Ihre Darstellerin, die in der dominikanischen Republik - wo der Film gedreht wurde - lebende kubanische Schauspielerin Yordanka Ariosa erhielt für ihre Parforceleistung in der Verkörperung einer Frau, die in einer hoffnungslosen Umgebung einen gewalttätigen Amour Fou lebt, völlig zu Recht den Preis als beste Schauspielerin.
Und dass der Preis für den besten Schauspieler dann gleich zweimal vergeben wurde, nämlich ex aequo an Javier Cámara und Ricardo Darín für ihre Leistungen als zwei Freunde in der Tragikomödie "Truman" von Cesc Gay, war zu erwarten. Was die zwei Ausnahmeschauspieler, der eine bekannt aus Filmen Pedro Almodóvars, der andere in seiner Heimat Argentinien ein absoluter Superstar, in dieser vordergründig schlichten Geschichte um zwei Männer, einen Hund und einen Abschied boten, war schlicht grossartig - und dass Regisseur Cesc Gay, ebenso wie Agustí Villalonga Katalane ist: das hatte am Vorabend der schicksalhaften Wahl in Katalonien vielleicht niemand von der siebenköpfigen internationalen Jury bedacht.
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