Geri Krebs über das "17. Visions du réel - Festival international de cinéma Nyon"

Geri Krebs über das "17. Visions du réel - Festival international de cinéma Nyon"

Die erste Ausgabe des hochkarätigen Festivals unter neuer künstlerischer Leitung war gewohnt ausufernd und vielfältig, zeigte aber auch, dass Luciano Barisone keine Kopie seiner Vorgänger sein will.

Auf die Frage, wo er andere Schwerpunkte setze als seine Vorgänger Jean Perret und Gabriela Bussmann, verwies Luciano Barisone im Gespräch auf die bewusste Absenz von stark journalistisch geprägten, reportagehaften Dokumentarfilmen. Es waren die Sektionen „Tendences“ und „Investigations“ gewesen, die der neue künstlerische Leiter abgeschafft und in denen sich in früheren Jahren oft so mancher Publikumsliebling verborgen hatte.

Gegenüberstellung verschiedener Märkte

Als Ersatz dafür gab es dieses Jahr die Sektion „Etat d’esprit“, die bewusst auf Weltpremieren verzichtete und bei der das Publikum einen Favoriten für den entsprechenden Preis erküren konnte.
Diesen gewann „An African Election“ von Jarreth Merz, ein thrillerartig aufgebautes Werk, das die Wahlen vom Dezember 2008 in Ghana dokumentierte. War dieser Film auf seine Art eher klassisch –journalistisch, gab es im Bereich von eher essayistischen Beiträgen mit „Mercados de futuros“ der Spanierin Mercecdes Alvarez (Prix regards neufs) ein Highlight, das bezüglich Originalität und aus der Situation heraus entstandener Komik herausragte. In der Gegenüberstellung des geplatzten Marktes der Immobilien mit jenem für alte Gegenstände in einem ärmlichen Vorort von Barcelona und in Reflexionen über ein Publikum, dem die Zukunft verkauft werden soll, erreichte der ungemein sorgfältig montierte Film unglaublich witzige Momente, was seine gelegentlich etwas gar ausufernden Betrachtungen vergessen liess.

Orte mit kriegerischer Vergangenheit

Wie in manchen früheren Jahren spielten auch in diesem Jahr Filme, die sich an Orte mit kriegerischer Vergangenheit annäherten, eine wichtige Rolle, und es war vielleicht kein Zufall, dass ein rundum gelungenes Werk mit dieser Thematik den Hauptpreis des Festivals erhielt. „El lugar mas pequeño“ der Mexikanerin Tatjana Huezo Sánchez zeigte in einer fast zweistündigen, weitgehend elegischen Naturbetrachtung die Rückkehr von BewohnerInnen in ein ländliches Gebiet El Salvadors, das während des Krieges von 1980-1992 völlig verwüstet worden war und in dem die Armee in ihrem Kampf gegen die linke Guerilla eine gandenlos-brutale Strategie der verbrannten Erde verfolgt hatte. Der fast gänzlich ohne Dialoge und Musik auskommende Film ist weitgehend von den Tönen einer paradiesisch wuchernden Natur begleitet, im Off sind die erschütternden Berichte dieser Menschen zu hören, und nur manchmal sieht man sie kurz und ganz beiläufig bei ihren alltäglichen Verrichtungen. Meistens jedoch ist die üppige Natur die eigentliche Protagonistin in einem berührenden Panorama des Willens zum Leben.

Schweizer Filme

Mit grossem Interesse habe sie im Katalog die Inhaltsangaben der neuen Schweizer Filme studiert, erklärte Flor Rubina, eine chilenische Filmproduzentin, anlässlich eines Podiums mit schweizerischen und lateinamerikanischen Festivalvertretern und Produzenten und fuhr dann fort, dass sie sich gewundert habe, wie fleissig Schweizer Dokumentarfilmer in andere Weltgegenden reisten, um dort Filme zu realisieren. Die Frage, was ein Schweizer Film sei, ist zwar uralt. Doch es war dieses Jahr tatsächlich auffällig, dass sowohl die einzige Schweizer Produktion im Wettbewerb der langen Dokumentarfilme – der Erstling „Sira – Wenn der Halbmond spricht“ von Sandra Gysi und Ahmed Abdel Mohsen, ein Porträt über einen alten ägyptischen Sänger – wie auch die Schweizer Filme in anderen Sektionen des Festivals oft mit Geschichten aus fernsten Ecken der Welt aufwarteten. Neben dem eingangs erwähnten „An African Election“ über den Wahltriller in Ghana, ging es dabei etwa um Landreform in Venezuela („La terre tremble“ von Vania Aillon), Landbesetzungen in Paraguay („Raising Resistance“ von David Bernet und Bettina Borgfeld, Prix SRG-SSR) oder eine Schule für Roma-Kinder in Rumänien („Scoala noastra“ von Mona Nicoara und Miruna Coca-Cozma). Dies ist nur eine Auswahl von Schweizer Produktionen, die sich thematisch sehr „unschweizerisch“ präsentierten. Daneben gab es aber durchaus auch einheimische Filme, die sich an Schweizer Realitäten annäherten, am eindrücklichsten sicher der (mit zwei „lobenden Erwähnungen“ ausgezeichnete) Erstling „Eine ruhige Jacke“ von Ramón Giger. Das atemlose, konsequent mit Handkamera gedrehte Porträt eines jungen autistischen Mannes auf einem therapeutischen Bauernhof im Solothurner Jura überzeugte in seiner Radikalität, mit der hier ein komplexes Krankheitsbild ganz aus sich selber heraus und ohne jegliche erklärenden Elemente dargestellt wurde.

Auffallend war, dass - wie bereits an den diesjährigen Solothurner Filmtagen – die urbane Schweiz in den Schweizer Filmen kaum präsent war. Ein witzige Umdrehung dieses Sachverhalts stellte schliesslich ein – serbischer - Kurzfilm dar, realisiert von dem in der Schweiz geborenen, heute wieder in Serbien lebenden Luka Popadic. „Edmund u Knezevac“ ist das Porträt des ehemaligen Zürcher Anwalts und Politaktivisten Edmund Schönenberger, eines kantigen und kauzigen Mittsechzigers, der vor eineinhalb Jahrzehnten zusammen mit seiner serbischen Frau in das winzige Dörfchen Knezevac in der tiefsten serbischen Provinz ausgewandert ist und der sich hier, fern von den Zwängen und Einschränkungen des Schweizer Staates, ein Leben als Selbstversorger eingerichtet hat. Man kann nur hoffen, dass in Zukunft schweizerische Befindlichkeiten, gesehen durch „fremde“ Blicke, sich ebenso selbstverständlich etablieren werden wie die Blicke Schweizer Filmer auf ferne Realitäten.
(Geri Krebs)

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