Das 66. Filmfestival von Cannes – Palmarès

Das 66. Filmfestival von Cannes – Palmarès

Nach einem eher blassen Wettbewerb ging die Goldene Palme an «La vie d'Adèle» von Abdellatif Kechiche. Die Coen-Brüder mit «Inside Llewyn Davis» landeten auf dem «zweiten» Platz.

Von Doris Senn

Die diesjährige Goldene Palme geht an «La vie d'Adèle» des tunesisch-französischen Regisseurs Abdellatif Kechiche. Der auf dem Comic «Le bleu est une couleur chaude» von Julie Maroh basierende «La vie d’Adèle – chapitre 1 & 2» erzählt von zwei jungen Frauen, deren Beziehung als Liebe auf den ersten Blick beginnt und sich zur grossen «Passion fou» entwickelt.

Goldene Palme für Regisseur und Darstellerinnen
Der Film zeigt dies mit grosser physischer Nähe – u. a. mit einer minutenlang und extensiv gezeigten Liebesnacht in 101 Positionen. Kechiche trieb dabei seine beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux («Sister», «Les adieux à la Reine») und insbesondere das grosse Nachwuchstalent Adèle (!) Exarchopoulos, deren Gesicht Kechiche in vielen Grossaufnahmen zu zelebrieren weiss, bis an ihre Grenzen. Kein Wunder, wurde die Goldene Palme bei «La vie d’Adèle» zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals an den Regisseur und die Darstellerinnen gemeinsam verliehen.

«La vie d'Adèle»: Provisorische Filmversion
Allerdings erhält die mutmasslich über Jahre sich hinziehende Beziehung von Adèle und Emma nie wirklich Tiefe oder Profil, und die isolierten, mit sprunghaftem Schnitt inszenierten und aneinandergereihten Episoden – hektische Dialog- und Sexszenen von rohem, pseudodokumentarischem Touch – vermögen die Geschichte nicht aus ihrer Schablonenhaftigkeit zu lösen. Aussergewöhnlich ist, dass der Film in Cannes in einer «provisorischen» knapp dreistündigen Version eingereicht werden konnte – gut möglich, dass er nun mit einigen Kürzungen und Straffungen für seinen erst im Herbst angepeilten Kinostart fitgemacht wird.

Favorisierte Coen-Brüder
Die grossen Favoriten des Wettbewerbs waren die Brüder Coen mit ihrem Musikerporträt «Inside Llewyn Davis». In einem atmosphärischen Zeitporträt aus den 1960ern erzählen sie die Geschichte eines Folksängers im New Yorker Künstlerviertel. Davis (ein brillanter Oscar Isaac, der seine Songs höchstpersönlich performt) ist ein sympathischer Charakter mit Charisma und Können – aber irgendwie schafft er es nicht über die Kleinbühnen hinaus. So schläft der notorisch Geldlose mal hier bei Freunden auf der Couch, mal da. Schliesslich ist auch noch die Frau eines Freundes von ihm schwanger, und dann ist da noch diese Katze … Die Coens fabrizieren aus der unspektakulären Story ein süffiges Zeitporträt – mit einer wunderbaren Kamera (Bruno Delbonnel) und einem hervorragenden Cast. Skurrile Figuren – darunter der beleibte John Goodman als Habitué –, trockener Humor und tolle, ausgespielte Songs machen «Inside Llewin Davis» zu einem runden Kinoerlebnis!

Brisante Patchworkfamilie: «Le passé»
Auch «Le passé» des iranischen Regisseurs Ashgar Farhadi wurde als Preisanwärter gehandelt – erhielt aber «nur» den Preis für Bérénice Bejo («L'Artiste») als Hauptdarstellerin Marie. Mit seinem Geschick für mäandrierende Plots (siehe seinen Vorgängerfilm und Oscar-Gewinner «A Separation») erzählt Farhadi darin von Ahmad, der nach vier Jahren nach Paris zurückkehrt, um sich von Marie scheiden zu lassen – und dabei auf eine brisante Patchworkfamiliensituation trifft, ist Marie doch grade erst mit ihrem neuen Lover, samt jeweiligem Nachwuchs, zusammengezogen.

«Nebraska»: Vater-Sohn-Drama in Jarmusch-Stil
Der Preis für den besten Darsteller ging an den 76-jährigen Bruce Dern in Alexander Paynes («About Schmidt») Vater-Sohn-Drama «Nebraska». Der amerikanische Regisseur erzählt darin von einem Sohn (als brillanter Antiheld: Will Forte) und seinem leicht dementen Vater (Bruce Dern). Letzterer hat ein Werbe-Millionenlos erhalten und lässt sich von nichts und niemandem davon abbringen im Glauben, dass die versprochene Million an der angegebenen Adresse in Lincoln, Nebraska, auf ihn warte. Payne schafft mit Lakonie und in Schwarzweiss ein wunderbares Roadmovie, das nicht nur einfühlsam die Beziehung zwischen dem alten Mann und seinem Sohn schildert, sondern auch die Weiten des Kornstaats Nebraska betörend auf die Leinwand bannt.

Wunderliche Jury-Entscheide
Erstaunen riefen die weiteren Vergaben durch die von Steven Spielberg präsidierte Jury hervor, in der u. a. Nicole Kidman und Daniel Auteuil sowie die Regisseure Ang Lee und Cristian Mungiu Einsitz hatten: Der 34-jährige Amat Escalante erhielt für «Heli», der besonders mit seinen exzessiven Folterszenen durch die mexikanische Drogenmafia von sich reden machte, den Preis für die beste Regie. Der «kleine» Preis der Jury ging an den japanischen Regisseur Kore-Eda Hirokazu für sein länglich und didaktisch geratenes Sozialdrama um zwei im Krankenhaus vertauschte Babys: «Like Father, Like Son». Die Auszeichnung für das beste Drehbuch erhielt Jia Zhangke für seinen zusammengepuzzelten Episodenfilm «A Touch of Sin» – ein Kaleidoskop gesellschaftlicher Situationen in vier Regionen Chinas und daraus folgende blutige Gewalt- und Racheakte.

Unter ferner liefen …
Vom Preissegen ausgenommen war Steven Soderbergs «Behind the Candelabra» – ein doch eher mainstreamig konstruiertes Porträt des flamboyanten Las-Vegas-Stars Liberace, mit dem grossartigen Duo Michael Douglas und Matt Damon in den Hauptrollen. Auch François Ozon mit seinem unterkühlten Callgirl-Plot «Jeune & jolie» ging leer aus – ebenso wie Nicolas Winding Refns («Drive») mit Spannung erwartetes «Only God Forgives», das sich als ambitiös-kultschwangeres, aber kläglich gescheitertes, blutrünstiges Ödipusdrama entpuppte (mit Ryan Gosling).

Französische Dominanz
Es war ein eher farbloser Wettbewerb im diesjährigen Cannes mit 20 Titeln, wovon rund die Hälfte französische Produktionen und Koproduktionen waren! Über alle Sektionen waren es sogar nicht weniger als 33 Titel – und Frankreich damit das mit Abstand meistvertretene Land vor den USA (13) und Grossbritannien (5)! Dies zeugt zum einen von der Stärke der Filmnation Frankreich (das mit 209 produzierten Langfilmen im Jahr 2012 europäische Spitze bildet), aber auch von einer nicht ganz über alle Zweifel erhabenen Auswahl der Programmleiter – insbesondere was den Wettbewerb angeht, wo man gut und gerne auf so wenig überzeugende Streifen wie «Michael Kohlhaas», «Jimmy P.» oder auch das in Afrika angesiedelte «Grisgris» hätte verzichten können.

Jarmusch und Polanski: Altmeisterliches Finale
Seinen Wettbewerb beschloss Cannes mit Amüsement und altmeisterlicher Glorie: zum einen mit Jim Jarmusch und seinem in die Gegenwart transportierten Vampirmovie «Only Lovers Left Alive» – ein für Jarmusch eher mainstreamiges, selbstironisches Kultstarvehikel mit Tom Hiddleston, Tilda Swinton, Mia Wasikowska und einem Gastauftritt von John Hurt. Zum andern mit dem jüngsten Werk des 79-jährigen Roman Polanski, «Venus in Fur», in dem er sein Alter Ego und Ebenbild Mathieu Amalric als Bühnendramaturg auftreten lässt, der sich leidenschaftlich in eine Schauspielerin (gespielt von Polanskis Ehefrau Emmanuelle Seigner) verliebt. Ein 2-Personen-Bühnenstück um Liebe, Macht und Dominanz – dessen Inszenierung Polanski schon lange für sich erträumt hatte.
(Doris Senn)

Die Gewinner in Cannes

Goldene Palme «La vie d'Adèle» Regie: Abdellatif Kechiche Grosser Preis der Jury «Inside Llewyn Davis» Regie: Ethan Coen & Joel Coen
       
Beste Darstellerin Bérénice Bejo in «The Past» Bester Darsteller Bruce Dern in «Nebraska»
       
Beste Regie Amat Escalante für «Heli» Bestes Drehbuch Jia Zhangke für «A Touch Of Sin»
       
Preis der Jury «Like Father, Like Son» Regie: Kore-Eda Hirokazu Bester Debütfilm Anthony Chen für «Ilo Ilo»
       
Bester Kurzfilm «Safe» Regie: Byoung-Gon Moon    
       
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