Cannes 2015 – Bilanz und Palmarès. Von Doris Senn

Cannes 2015 – Bilanz und Palmarès. Von Doris Senn

Das diesjährige Cannes präsentierte sich durchgehend unter strahlend blauem Himmel, dafür mit eher durchzogenem Programm. 19 Filme konkurrierten um die Goldene Palme. Die Jury mit den Coen-Brüdern an der Spitze präsentierte ein breit gefächertes Palmarès.

Die Favoriten
Zuerst zu den Höhepunkten: Eine grosse Entdeckung gab es im Wettbewerb des 68. Festivals von Cannes: «Saul fia» des 38-jährigen Ungarn László Nemes, der damit seinen ersten langen Film präsentierte – und sowohl formal als auch inhaltlich bestach. Die Geschichte spielt in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs – allein dies eine sehr gewagte Wahl. Im Zentrum: Saul, der zum aus Juden bestehenden «Sonderkommando» gehört, das für all die Verrichtungen rund um die Ermordung der im Akkord ankommenden Juden verantwortlich ist: das Einschleusen in die Kammern, das Verräumen von Kleidern und Wertsachen, das anschliessende Putzen. Bis zu dem Tag, an dem Saul es sich zur Aufgabe macht, einem Jungen – den er zu «seinem Sohn» erwählt – ein würdiges Begräbnis zukommen zu lassen. Die Kamera – man drehte auf 35 Millimeter und im fast quadratischen Bildkader – setzt den Fokus rigoros auf Saul (brillant: Geza Röhrig in seiner Debütrolle), belässt alles weitere in Unschärfe, evoziert es einzig durch eine ausgeklügelte Off-Tonspur und schafft so ein Werk von unglaublicher Wucht.

Auch Nanni Moretti gelang nach «Habemus Papam» (2011) wieder ein kleines, persönlich geprägtes Meisterwerk und reiste zum siebten Mal nach Cannes: In seinem «Mia madre» spielt er den Bruder seines Alter Ego, das er dieses Mal an eine Frau übertrug. Margherita (hervorragend: Margherita Buy) verkörpert darin eine Regisseurin, die – mitten im Dreh – als alleinerziehende Mutter auch noch mit der Krankheit ihrer Mutter konfrontiert ist. Moretti gelingt eine einnehmende Mischung aus Drama und Komödie, mit einem witzigen John Turturro, der auf dem Set die Regisseurin schier zur Verzweiflung bringt.

Last, but not least: Todd Haynes. Der amerikanische Regisseur liefert eine hochkarätige Umsetzung eines frühen Romans von Patricia Highsmith: «Carol». Darin wird die Liebesbeziehung zwischen der jungen Therese und der etwas älteren Carol erzählt. Mit Cate Blanchett in der Hauptrolle präsentiert Haynes ein verführerisch stilisiertes Kostümdrama, welches das Drama dieser verbotenen Liebesbeziehung – das Buch erschien 1952 – einfühlsam auf die Leinwand bringt.

Der Trend zur Grossproduktion
Verschiedentlich zeichnete sich im diesjährigen Cannes der Hang europäischer Filme zur Grossproduktion – in Englisch gesprochen und mit internationalem Staraufgebot – ab. Dazu gehören Matteo Garrones «Il racconto dei racconti», der die fein gedrechselte neapolitanische Märchensammlung von Basile aus dem 17. Jahrhundert zu drei leider langatmigen zwischen Fantasy, Thriller und Horror changierenden Erzählsträngen verwandelte: mit Salma Hayek als Königin von Selvascura, mit Vincent Cassel als liebestollem König von Roccaforte und John C. Reilly als Monarch von Selvascura, der seinen Narren an einem Floh gefressen hat.

Aber auch der Grieche Yorgos Lanthimos drehte in Englisch – und zwar mit dem irischen Colin Farrell, der britischen Rachel Weisz, der Französin Léa Seydoux und (ebenfalls) mit John C. Reilly die Antiutopie «The Lobster», in der Singles in ein drakonisch geführtes Hotel verfrachtet und zur «Verpaarung» gedrängt werden. Die streckenweise herrlich abstruse Fabel versinkt aber in immer düsteren Tönen, um am Ende Schiffbruch zu erleiden.

Der Norwege Joachim Trier drehte ebenfalls seinen ersten englischsprachigen Film: «Louder than Bombs» – ein Familiendrama um eine durch Selbstmord aus dem Leben geschiedene Mutter und Kriegsfotografin – mit einer unterkühlten (und leider fehlbesetzten) Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Während Paolo Sorrentino («La grande bellezza») mit «Youth» Altherrenkino im wörtlichen Sinn präsentierte, worin Michael Caine als Komponist und Harvey Keitel als Regisseur über Grandezza und Vergänglichkeit schwadronieren – vor der zweifellos grossartigen Kulisse der Bündner Berge und des Flimser Hotels Waldhaus.

Buhrufe der Kritikergemeinde
Die Kritikergemeinde machte ihrem Unmut über einige Tiefpunkte im Wettbewerb nicht nur anlässlich des langfädigen «Youth» Luft – sie versenkte auch einhellig das neuste Werk von Gus van Sant unter Buhrufen: Der Kultautor («Elephant», « Milk») präsentierte ein bühnenhaft angerichtetes Drama um zwei suizidale Männer, die sich in einem in Japan existierenden «Selbstmordwald» begegnen. Wer ein existenzielles, fein inszeniertes Drama à la «Gerry» erwartete, wurde aber mehr wie enttäuscht: Das schablonenhafte Drehbuch liess keine noch so unglaubwürdige Dramatisierung aus und verzichtete auch nicht auf einen bemüht positiven Ausgang.

Der Palmarès der Jury
Der Preissegen verteilte sich über nicht weniger als 8 der 19 Filme: Die Goldene Palme ging verdient an ein Sozialdrama aus Frankreich: «Dheepan» erzählt von einer tamilischen Flüchtlingshilfe, die in Frankreich Asyl findet – in einer Pariser Banlieue aber wieder zwischen die Fronten der dort herrschenden Drogendealer gerät. Jacques Audiard erzählt von den grossen und kleinen Schwierigkeiten im Alltag, sich in einer völlig fremden Welt zurechtzufinden. «Saul fia», dem man nicht nur aufgrund seiner grossen formalen Qualitäten die Palme zugestanden hätte, erhielt demgegenüber «nur» den Grossen Preis.

Eher überraschend ging der Preis für die beste Regie an den 68-jährigen Taiwaner Hou Hsiao-Hsien (sein letzter Film: «Le ballon rouge», 2007) für seine erste Exkursion ins Martial-Arts-Genre. Sein Historiendrama «The Assassin» glänzt zwar durch ausgefeilte Setdesigns und prächtige Kostüme, doch präsentiert sich die Handlung eher als Aneinanderreihung von Vignetten denn als spannungsreiche Dramaturgie. Den Preis der Jury erhielt «The Lobster» von Yorgos Lanthimos.

Für ihre schauspielerischen Leistungen wurden der Franzose Vincent Lindon prämiert, der in Stéphane Brizés Sozialdrama ebenso brillant wie unprätentiös den 50plus-Arbeitslosen Thierry mimt (und, wie er an der Preisverleihung überwältigt mitteilte, damit den allerersten Preis in seiner langen Karriere in Empfang nahm), sowie – ex aequo – die Französin Emmanuelle Bercot, die nicht nur die Hauptrolle im kontroversen «Mon roi» von Maïwenn um eine Amour fou spielte, sondern auch als Regisseurin des Eröffnungsfilms «La tête haute» zeichnete, und die Darstellerin Rooney Mara, die neben Cate Blanchett die Rolle als Therese in Todd Haynes «Carol» innehatte. Schliesslich verlieh man noch dem 36-jährigen mexikanischen Michel Franco für seinen dritten Spielfilm «Chronic» – um einen Krankenpfleger, David (Tim Roth), der unheilbar kranke Patienten begleitet – den Preis für das beste Drehbuch.
(Doris Senn)

Preise

Goldene Palme DHEEPAN, Regie: Jacques Audiard
Grosser Preis SAUL FIA, Regie: László Nemes
Beste Regie Hou Hsiao-Hsien für THE ASSASSIN
Preis der Jury THE LOBSTER, Regie: Yorgos Lanthimos
Beste Darstellerin ex aequo Emmanuelle Bercot (MON ROI) und Rooney Mara (CAROL)
Bester Darsteller Vincent Lindon (LA LOI DU MARCHÉ)
Bestes Drehbuch Michel Franco für CHRONIC
Goldene Palme Kurzfilm WAVES ’98, Regie: Eli Dagher
Goldene Kamera LA TIERRA Y LA SOMBRA, Regie: César Augusto Acevedo
   


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