Buntes Programm bei der 62. Berlinale. Schlussbericht von Walter Gasperi
Ausgesprochen bunt präsentierte sich der Wettbewerb der heurigen Berlinale. Die großen Meisterwerke gab es zwar nicht zu entdecken, aber einen formal und inhaltlich sehr anregenden Mix.
Weiterhin gilt, dass die Topregisseure der Gegenwart Cannes und Venedig vorziehen, Berlin dagegen mit dem Vorlieb nehmen muss, was die Riesen übrig lassen. Mit dem Philippino Brillante Mendoza war zwar ein großes Kaliber im Wettbewerb vertreten, doch „Captive“ konnte die hoch gesteckten Erwartungen nicht erfüllen. In hyperrealistischem Stil zeichnet Mendoza nach realen Ereignissen die 13-monatige Entführung einer Gruppe von westlichen Ausländern durch muslimische Aktivisten nach, kommt dabei aber nur in wenigen Momenten über die quasidokumentarische Ebene hinaus.
Goldener Bär für Tavianis, Meisterhaftes von Petzold
Den Höhepunkt ihrer Karriere längst hinter sich haben Paolo und Vittorio Taviani. Um 1980 feierte das inzwischen über 80-jährige Brüderpaar mit „Padre padrone“ und „La notte di San Lorenzo“ Welterfolge. Drückten grandiose Landschaftstotalen diesen Filmen den Stempel auf, so spielt „Cesare deve morire“, der zur allgemeinen Überraschung mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde, zur Gänze in geschlossenen Räumen. In Schwarzweiss werden die Einstudierung und Aufführung von Shakespeares „Julius Caesar“ mit inhaftierten Schwerverbrechern nachgezeichnet. Auf prägnante Szenen verkürzt vermitteln die Tavianis einerseits einen Eindruck von Shakespeares Stück und bringen andererseits dem Zuschauer die Darsteller näher. Spannend wird es vor allem, wenn sich Bezüge zwischen Stück und Biographie der Verbrecher einstellt. Doch leider ist das nur selten der Fall.
Favorit für den Goldenen Bären war Christian Petzolds „Barbara“. Unverkennbar ist die Handschrift dieses Regisseurs auch bei diesem Film über eine DDR-Ärztin, die 1980 nach Stellen eines Ausreiseantrags von Berlin in die Provinz versetzt wird. So kühl wie Nina Hoss die Ärztin Barbara Wolff spielt, inszeniert Petzold, verzichtet wie gewohnt auf Action, erzeugt aber durch ebenso knappe wie präzise Dialoge, durch die reduzierte, aber präzise Einbettung ins Milieu und die gewohnt ökonomische Inszenierung, in der jede Szene, jeder Satz und jeder Blick seine Funktion haben, die geisterhaft-gespenstische Stimmung eines Landes, in dem niemand sicher ist, sondern jeder jedem misstrauen muss.
Starkes Sozialdrama von Ursula Meier
Doch die Stärke der heurigen Berlinale lag weniger in einzelnen Filmen als vielmehr in ihrer Vielfalt. Der Bogen spannte sich vom dreistündigen chinesischen Nationalepos „Deer White Plain“ bis zu Hans-Christian Schmids Familiendrama „Was bleibt“, von der poetisch erzählten Liebesgeschichte zwischen einem griechischen Mönch und einer russischen Nonne in „Meteora“ bis zu Ursula Meiers bewegendem Sozialdrama „L´enfant d´en haut – Sister“. Erstmals seit 13 Jahren war mit diesem Film die Schweiz im Wettbewerb dieses A-Festivals vertreten, mehr als einen Sonderpreis hätte dieser starke Zweitling verdient.
Im Stil der Dardenne-Brüder erzählt die Westschweizerin mit hautnah geführter Kamera vom zwölfjährigen Simon, der mit Diebstählen in einem Skigebiet nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch den seiner älteren Schwester bestreitet. Wie die Dardennes fokussiert Ursula Meier auf sozial am Rand Stehenden und findet im Gegensatz vom auf dem Berg gelegenen Freizeitgebiet und dem Überlebenskampf im Tal ein treffendes Bild für die soziale Kluft. Getragen wird der mit geschickten Wendungen aufwartende Film vor allem von dem in jeder Szene präsenten Kacey Mottet Klein als Simon. Eindringlich vermittelt er die Sehnsucht dieses ganz auf sich gestellten Jungen nach Wärme und Geborgenheit.
Rassismus und Kindersoldaten
Kinder in prekären Lebenssituationen fand man auch in zwei anderen starken Wettbewerbsfilmen. Bence Fliegauf folgt in „Just the Wind“ mit ähnlicher Kameraarbeit wie Ursula Meier einer Roma-Mutter und ihren beiden Kindern auf ihren getrennten Wegen durch einen Tag. Es ist der Tag, nach dem die Nachbarsfamilie ermordet wurde. Angst macht sich unter den Roma breit und diese Angst und Beklemmung vermittelt Fliegauf eindringlich mit engen Einstellungen und nah geführter Kamera, zeigt im stets präsenten Rassismus aber auch, wie begründet diese Angst ist.
Im realistischen Gestus und der ungemein geschlossenen Inszenierung packt „Just the Wind“ noch mehr als Kim Nguyens „Rebelle – War Witch“. In erschütternden Szenen erzählt der Kanadier von einer zwölfjährigen Kongolesin, die zur Kindersoldatin gemacht wird. Die realistische Darstellung wird dabei mehrfach durch poetische Traumsequenzen, die lange nachhallen, aufgebrochen.
Erholen konnte man sich von dieser harten Kost beispielsweise bei Billy Bob Thorntons „Jayne Mansfield´s Car“. Ein grosser Film ist diese 1969 in Alabama angesiedelte Familiengeschichte sicher nicht, aber dem souveränen Mix aus dramatischen und komödiantischen Szenen sieht man nicht zuletzt aufgrund des lustvollen Spiels von Robert Duvall, John Hurt und Thornton selbst gerne zu.
Außer Konkurrenz: Steven Soderbergh, Tsui Hark und Meryl Streep
Während Festivalleiter Dieter Kosslick im Wettbewerb auf engagiertes Kino setzt, sollen außer Konkurrenz auch Glamour und Unterhaltung nicht zu kurz kommen. Bei Tsui Harks Martial-Arts-Film „Flying Swords of Dragon Gate“ fliegen dem Zuschauer Schwerter und Holzpflöcke in 3D um die Ohren, atemloses Action-Kino bietet Steven Soderberg mit „Haywire“ und Meryl Streep brilliert als Margaret Thatcher in dem ansonsten schwachen Biopic „The Iron Lady“. – Stars lockt man mit der Programmierung solcher Filme nach Berlin und kann sich des entsprechenden Medien- und Faninteresses sicher sein. In diesem Mix aus kleinen, aber feinen Filmen im Wettbewerb und Starpower außer Konkurrenz könnte auch in Zukunft der Erfolg der Berlinale liegen.
Preise der 62. Berlinale 2012
Goldener Bär: | "Cesare deve morire" von Paolo und Vittorio Taviani |
Grosser Preis der Jury (Silberner Bär): | "Csak a szél" von Bence Fliegauf |
Silberner Bär für die beste Regie: | Christian Petzold für "Barbara" |
Silberner Bär für die beste Schauspielerin: | Rachel Mwanza in "Rebelle" |
Silberner Bär für den besten Schauspieler: | Mikkel Folsgaard in "Die Königin und der Leibarzt" |
Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: | Lutz Reitemeier für die Kamera in "Bai lu yuan / White Deer Plain" |
Silberner Bär für das beste Drehbuch: | Nikolaj Arcel und Rasmus Heisterberg für "Die Königin und der Leibarzt" |
Lobende Erwähnung: | "L'enfant d'en haut" von Ursula Meier |
Alfred-Bauer-Preis für neue Perspektiven im Kino: | "Tabu" von Miguel Gomes |
Preise der Kurzfilmjury
Goldener Bär: | "Rafa" von Joao Salaviza |
Silberner Bär: | "Gurehto Rabbito" von Wada Atshushi |
DAAD Kurzfilmpreis: | "The man that got away" von Trevor Anderson |
Berlin Shortfilm Nominee for the Europeen Film Awards 2012: | "Vilaine fille mauvais garçon" von Justine Triet |
Alle Preise und Ehrungen an der 62. Berlinale findest du hier
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