72. Locarno Festival: Bericht und Preise

72. Locarno Festival: Bericht und Preise

In ihrem ersten Jahr als künstlerische Leiterin setzte Lili Hinstin mit eigenwilligen Arthouse-Filmen im Wettbewerb und Unterhaltung auf der Piazza die Linie ihres Vorgängers Carlo Chatrian fort. Der Goldene Leopard ging an „Vitalina Varela“ des Portugiesen Pedro Costa.

Wirklich grosse Filme fehlten zwar auf der Piazza ebenso wie im Wettbewerb, aber auch echte Ärgernisse waren rar gesät. Solide präsentierte sich das erste Programm von Lili Hinstin und mit Pedro Costas „Vitalina Varela“ zeichnete die von der französischen Schriftstellerin und Regisseurin Catherine Breillat geleitete Jury auch den überzeugendsten Film des Wettbewerbs mit dem Goldenen Leoparden aus.

Goldener Leopard und Darstellerpreis für „Vitalina Varela“

Der Portugiese Pedro Costa, der schon 2014 für „Cavallo Denero – Horse Money“ in Locarno mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, taucht in „Vitalina Varela“ in ein dunkles Elendsviertel von Lissabon ein, in dem Migranten von den Kapverdischen Inseln wohnen.

Nie gewähren in dem im 4:3-Format gedrehten Film Totalen einen Überblick, eingesperrt wird man quasi in die engen Gassen und Wohnungen. Verstärkt wird dieses Gefühl der Enge noch durch die Lichtführung, denn abgesehen vom Ende ist keine Einstellung komplett ausgeleuchtet, sondern immer ein grosser Teil in Dunkel getaucht.

Umso heller leuchten dafür bei diesem Film, der in seiner Arbeit mit dem Ciaroscuro und in seiner Farbintensität an Gemälde von Caravaggio erinnert, Details wie ein weisses Halstuch der Protagonistin, ein blutrotes Bettlaken oder T-Shirts an einer Wäscheleine.

Im Zentrum der Handlung steht die Mittfünfzigerin Vitalina Varela (auch die Schauspielerin heisst so), die nach dem Tod ihres Mannes, der schon vor 30 Jahren die Kapverdischen Inseln verlassen hat, aus ihrer Heimat nach Lissabon kommt. In langen Einstellungen hält sie nun Zwiesprache mit dem Verstorbenen, klagt über seine Emigration und darüber, dass sie allein zurückgelassen wurde, stellt den miserablen Wohnbedingungen und der Armut in Lissabon das grosszügige Haus in der Heimat gegenüber, das sie einst zusammen mit ihrem Mann gebaut hat.

Neben dem Goldenen Leoparden vergab die Jury auch den Preis für die beste Schauspielerin an die physisch sehr präsente Hauptdarstellerin Vitalina Varela.

Spezialpreis der Jury für „Pa-go“

Angesichts der Vergabe des Hauptpreises an den radikalen Film Pedro Costas kam der Spezialpreis der Jury an Park Jung-bums „Pa-go“ etwas überraschend, erzählt der Südkoreaner darin doch recht konventionell eine Krimi- und Dorfgeschichte. Im Zentrum steht dabei eine auf eine Insel versetzte Polizistin, die scheinbar auf einen Missbrauchsfall stösst, schließlich aber feststellen muss, dass beinahe das ganze Dorf involviert ist.

Regiepreis für Damien Manivel

Unbedingt begrüssen muss man dagegen die Vergabe des Regiepreises an Damien Manivel. für „Les enfants d‘Isadora“. Manivel, der ursprünglich Tänzer war, verzichtet auf eine klassische Spielfilmhandlung, setzt sich vielmehr in drei Kapiteln mit Isadora Duncans Stück „La mère“, das Duncan nach dem Unfalltod ihrer beiden Kinder entwickelte, und über dieses Stück mit dem Ausdruckstanz an sich auseinander.
Grosse Dichte entwickelt der Film, dessen Titel sich doppeldeutig auf die verstorbenen Kinder Isadora Duncans und ihre Nachfolgerinnen im Ausdruckstanz bezieht, durch die sehr konzentrierte und spartanische Inszenierung. Ganz auf das Stück und dessen Inszenierung beschränkt sich Manivel und vermittelt dabei die tiefen Gefühle, die in den Gesten, die jede Tänzerin für sich selbst neu finden und fühlen muss.

So wird sein Film einerseits zur grossen Hommage an Isadora Duncan, bietet aber andererseits über das Thema des Tanzstückes und kurze Tanzbewegungen auch reduziert, aber bewegend eine Reflexion über die Intensität der Beziehung zwischen Mutter und Kind, über den Schmerz eines Verlustes und die Notwendigkeit des Loslassens.

Fipresci-Preis und Darstellerpreis für „A Febre“

Auch der Darstellerpreis für den brasilianischen Indigenen Regis Myrupu in Maya Da-Rins „A Febre“ geht durchaus in Ordnung. Zudem wurde dieser leise und langsame Film auch mit dem Fipresci-Preis, dem Preis der internationalen Filmkritik, ausgezeichnet. Myrupu spielt in diesem Spielfilmdebüt den 45-jährigen Indigenen Justino, der am Rande von Manaus wohnt und im Hafen als Wachmann arbeitet. In geduldiger, quasidokumentarischer Beobachtung folgt Da-Rin zunächst dem Protagonisten durch seinen Alltag, bis die bevorstehende Trennung von der Tochter und der Besuch seines Bruders Erinnerungen an sein Dorf im Dschungel und seine Wurzeln wachrufen.

Mit seinem extrem langsamen Beginn macht Da-Rin dem Zuschauer den Einstieg zwar nicht leicht, doch zunehmend gewinnt „A Febre“ an Dichte und findet zahlreiche treffende und auch magische Bilder, die die Befindlichkeit und die Entwurzelung Justinos nach aussen kehren.

Preis der Ökumenischen Jury für „Maternal“

Wie geschaffen für den Preis der Ökumenischen Jury ist dagegen Maura Delperos „Maternal“, der fast ausschliesslich in einem von Nonnen geführten Heim für alleinerziehende Mütter in Buenos Aires spielt. Hier lässt die italienische Regisseurin die lebenslustige junge Mutter Lu und die junge Ordensschwester Paola aufeinandertreffen.

Mit grossem Ernst und ohne zu werten schildert Delpero in unaufgeregter Erzählweise, die dem Zuschauer Raum lässt, die beiden unterschiedlichen Frauen und wirft über Erzählungen der alten Nonnen von der Heiligen Familie Fragen nach heutigen Familienkonzepten und anhand des Verhaltens von Lu und Paola nach biologischer und sozialer Mutterschaft auf.

Von konventionell bis experimentell

Auch jenseits der preisgekrönten Filme bot der Wettbewerb eine spannende Mischung. Sehr konventionell, aber packend und atmosphärisch dicht versetzt beispielsweise Rabah Ameur-Zaimeche in „Terminal Sud“ den Zuschauer in einen nicht näher bestimmten Staat, in dem Polizeigewalt und Terror ein Klima permanenter Angst erzeugen. Plastisch arbeitet der franko-algerische Regisseur am Schicksal eines Arztes heraus, wie unter solchen Verhältnissen Humanismus keine Chance mehr hat und nur Flucht oder der Griff zur Waffe das Überleben sichern können.

Der Isländer Rúnar Rúnarsson reiht dagegen in „Bergmal – Echo“ 59 weitgehend statische und meist distanzierte tableauartige Einstellungen von teils typischen und teils weniger markanten Weihnachtsmomenten aneinander.

Übervoll an kleinen Geschichten, die sich vielfach auch auf viele andere Länder übertragen lassen, ist so „Bergmál – Echo“ und jede Einstellung ist perfekt kadriert und ausgeleuchtet. Im Detail faszinieren die unverbundenen, teilweise von sarkastischem Witz durchzogenen Momentaufnahmen durchaus, ermüden aber auch den Zuschauer, der bei jeder Einstellung praktisch wieder neu in den Film einsteigen muss.

Auch wirklich schwere Brocken fehlten mit Eloy Encisos „Longa noite“, bei dem schon mit der ersten Einstellung der Kunstwille zum Ausdruck kommt und dann 80 Minuten geredet, aber kaum etwas gezeigt wird, oder dem unendlich langsamen indonesischen „The Science of Fictions“ nicht, doch davon konnte man sich am Abend auf der Piazza bei Komödien und Thrillern erholen.

Bunte Mischung auf der Piazza

Mit Ausnahme von Quentin Tarantinos „Once Upon a Time …in Hollywood“ suchte man zwar auch auf der Piazza grosses Kino vergeblich, aber insgesamt war das Programm doch ebenso vielfältig wie unterhaltsam. Ginevra Elkanns Familienfilm „Magari“, in dem drei bei ihrer Mutter in Paris lebende Kinder zwei Wochen mit ihrem Vater in Rom verbringen müssen, konnte zwar aufgrund der unentschlossenen Erzählweise nicht ganz überzeugen. Zumindest in der ersten Hälfte spannende Unterhaltung bot dafür Patrick Vollraths „7500“, der praktisch zur Gänze im Cockpit eines Passagierflugzeugs spielt, von dem der Copilot Terroristen fernhalten muss.

Zu packen verstand auch Stéphane Demoustier mit dem Prozessfilm „La fille au bracelet“, in dem eine 18-Jährige vor Gericht steht. Indem der Regisseur in nüchternen statischen Einstellungen und ohne Musik die Fragen von Staatsanwältin und der Verteidigerin sowie Zeugenaussagen aufeinandertreffen lässt, bietet der Franzose nicht nur einen präzisen Einblick in das Procedere bei einem Prozess, sondern zeigt auch auf, welchen Interpretationsspielraum Aussagen speziell bei einem Fall, bei dem es nur Indizien, aber keine klaren Beweise gibt, bieten, wie moralische Komponenten bei der Einschätzung der Angeklagten mitspielen und wie schwierig es ist, die Wahrheit zu finden und damit zu einem gerechten Urteil zu kommen.

Leichte Unterhaltung bot Simon Birds charmante und liebevoll gemachte Komödie „Days of the Bagnold Summer“, in der ein Teenager den Sommer mit seiner nervenden Mutter verbringen muss, während Boris Lojkine mit dem starkem Biopic „Camille“ aufrüttelte. Intensiv schildert der Franzose in diesem Drama, das den Publikumspreis gewann, die Arbeit der Kriegsfotografin Camille Lepage in den Jahren 2013/14 im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik.

Mit „Diego Maradona“ fehlte auch ein Dokumentarfilm nicht, in dem Asif Kapadia allein mit Archivmaterial die Jahre des argentinischen Fußballstars speziell beim SSC Napoli und als Star der argentinischen Nationalmannschaft nachzeichnete. Kontrovers aufgenommen wurde dagegen der Thriller „Instinct“, in dem Halina Reijn mit starken Schauspielern und kühler Inszenierung von der zwischen Begehren und Angst schwankenden Beziehung zwischen einer Psychologin und einem inhaftierten Sexualstraftäter erzählt. Dass gerade dieser Film den Variety Piazza Grande Award gewann, erstaunt dann doch etwas.

Solide, aber wenig eigenes Profil

Insgesamt kann man also durchaus von einem soliden, wenn auch nicht überragenden Jahrgang und einem gelungenen Einstieg von Lili Hinstin sprechen. Etwas mehr eigenes Profil sollte sie dem Festival in den kommenden Jahren aber vielleicht doch verleihen, und auch ihr Verhältnis zum Schweizer Film wird die künstlerische Leiterin wohl überdenken müssen.

Während die Franzosen in Cannes alljährlich ebenso stark präsent sind wie die Deutschen bei der Berlinale und die Italiener in Venedig, war die Schweiz auf der Piazza und im Wettbewerb zumindest heuer schwach vertreten. – Vielleicht gab es ja wirklich zu wenig passende Produktionen, dennoch bleibt beispielsweise offen, wieso Samirs solider und gesellschaftlich relevanter Thriller „Baghdad in my Shadow“ seine Weltpremiere in der Sektion „Fuori concorso“ und nicht auf der Piazza feierte.
(Walter Gasperi)

Preise

Internationaler Wettbewerb  
Goldener Leopard VITALINA VARELA
von Pedro Costa, Portugal
Spezialpreis der Jury PA-GO (Height of the Wave)
von Park Jung-bum, Südkorea
Beste Regie Damien Manivel für LES ENFANTS D’ISADORA,
Frankreich/Südkorea
Beste Darstellerin Vitalina Varela für VITALINA VARELA
von Pedro Costa, Portugal
Bester Darsteller Regis Myrupu für A FEBRE
von Maya Da-Rin, Brasilien/Frankreich/Deutschland
Besondere Erwähnungen HIRUK-PIKUK SI AL-KISAH (The Science of Fictions)
von Yosep Anggi Noen, Indonesien/Malaysia/Frankreich
  MATERNAL
von Maura Delpero, Italien/Argentinien
   
Cineasti del presente  
Goldener Leopard BAAMUM NAFI (Nafi’s Father)
von Mamadou Dia, Senegal
Preis für die beste Nachwuchsregie 143 RUE DU DÉSERT
von Hassen Ferhani, Algerien/Frankreich/Katar
Spezialpreis der Jury IVANA CEA GROAZNICA (Ivana the Terrible)
von Ivana Mladenović, Rumänien/Serbien
Besondere Erwähnung HERE FOR LIFE
von Andrea Luka Zimmerman, Adrian Jackson, Grossbritannien
   
Moving Ahead  
Moving Ahead Award THE GIVERNY DOCUMENT (SINGLE CHANNEL)
von Ja’Tovia M. Gary, Vereinigte Staaten/Frankreich
Besondere Erwähnungen THOSE THAT, AT A DISTANCE, RESEMBLE ANOTHER
von Jessica Sarah Rinland, Grossbritannien/Argentinien/Spanien
  SHĀN ZHĪ BĚI (Osmosis)
von ZHOU Tao, China
   
First Feature  
Bester Debutfilm BAAMUM NAFI (Nafi’s Father)
von Mamadou Dia, Senegal
Swatch Art Peace Hotel Award LA PALOMA Y EL LOBO (The Dove and the Wolf)
von Carlos Lenin, Mexiko
Besondere Erwähnungen INSTINCT
von Halina Reijn, Niederlande
  FI AL-THAWRA (During Revolution)
von Maya Khoury, Syrien/Schweden
Pardi di domani  
  Internationaler Wettbewerb
Goldener Leopard SIYAH GÜNEŞ (Black Sun)
von Arda Çiltepe, Türkei/Deutschland
Silberner Leopard UMBILICAL
von Danski Tang, Vereinigte Staaten
Beste Regie OTPUSK (Leave of Absence)
von Anton Sazonov, Russland
Preis der Medien Patent Verwaltung AG WHITE AFRO
von Akosua Adoma Owusu, Ghana/Vereinigte Staaten
   
  Nationaler Wettbewerb
Goldener Leopard MAMA ROSA
von Dejan Barac, Schweiz
Silberner Leopard TEMPÊTE SILENCIEUSE
von Anaïs Moog, Schweiz
Preis bestes Schweizer Nachwuchstalent TERMINAL
von Kim Allamand, Schweiz
   
Variety Piazza Grande Award INSTINCT
von Halina Reijn, Niederlande
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
   
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