69. Filmfestival von Locarno. Von Walter Gasperi
Von Ken Loachs Cannes-Siegerfilm „I, Daniel Blake“ bis zum indischen Epos „Mohenjo Daro“ spannt sich der Bogen des Piazzaprogramms. Im Wettbewerb konkurrieren 17 Filme – ausnahmslos Weltpremieren - um den Goldenen Leoparden und mit Ehrenpreisen werden auch wieder zahlreiche Stars an den Lago Maggiore gelockt.
Eröffnet wird das Festival mit Colm McCarthys Verfilmung von M. R. Careys dystopischem Roman „The Girl with All the Gifts“, in dem beinahe die gesamte Menschheit in Zombies verwandelt wird und scheinbar nur ein Mädchen noch Rettung bringen kann. Auf Mainstream-Kino verzichtet der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, dessen Vertrag bis 2020 verlängert wurde, beim Piazza-Programm sichtlich auch heuer nicht, doch auch anspruchsvolle Produktionen kommen nicht zu kurz.
Vielfältiges Piazzaprogramm
Leicht und beweglich wie der Wind soll laut Chatrian, der die heurige Ausgabe des Festivals den beiden kürzlich verstorbenen Regisseuren Abbas Kiarostami und Michael Cimino widmet, Locarno sein, offen für innovative Formen und weniger bekannte Regisseure und Regionen.
Mit Paul Greengrass´ „Jason Bourne“ fehlt auf der Piazza zwar auch ein Blockbuster nicht und mit Ken Loach, dessen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneter „I, Daniel Blake“ hier seine Schweizer Premiere feiert, ist auch ein Altmeister vertreten, doch davon abgesehen lädt das Piazzaprogramm zu Entdeckungen ein.
Frankreich bestreitet mit Gilles Marchands „Dans la forêt“, Emmanuel Courcols „Cessez-le-Feu“, Marie-Castille Mention-Schaars „Le ciel attendra“ und Christophe van Rompaeys „Vincent“ zwar ein Viertel dieser Programmschiene, doch daneben werden in diesem Rahmen auch das indische Epos „Mohenjo Daro“ (Regie: Aschutosh Govariker), aus Malaysia „Interchange“ (Regie: Dain Iskander Said) und aus Portugal „Comboio de sal e acucar“ (Regie: Licinio Azevedo) vorgestellt.
Während „Vor der Morgenröte“, in dem Maria Schrader in fünf hochkonzentrierten und dichten Momentaufnahmen Einblick in das Leben Stefan Zweigs im südamerikanischen Exil bietet, in Deutschland und Österreich schon angelaufen ist, feiert Christian Schwochows „Paula“ auf der Piazza seine Weltpremiere. Schwochow erzählt darin mit Carla Juri in der Hauptrolle vom Leben der 1907 im Alter von 31 Jahren verstorbenen Künstlerin Paula Modersohn-Becker.
Die Schweiz ist mit Frédéric Mermouds „Moka“ vertreten, in dem die französischen Stars Emmanuelle Devos und Nathalie Baye die Hauptrollen spielen.
Acht Frauen im Wettbewerb
Während bei anderen Festivals oft über die mangelnde Präsenz von Regisseurinnen geklagt wird, stellen im heurigen Wettbewerb die Frauen mit acht der 17 Filme beinahe die Hälfte der Konkurrenz. Wie beim Piazzaprogramm ist auch hier die geographische Bandbreite groß, reicht von neuen Filmen des Argentiniers Matías Pineiro („Hermia & Helena“) und der schweizerisch-argentinischen Locarno-Siegerin Milagros Mumenthaler („La idea de un Lago“) über zwei japanische und einen thailändischen Beitrag bis zu zwei portugiesischen und vier osteuropäischen Produktionen.
Während die USA und überraschenderweise für einmal auch Italien im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden fehlen, darf man auf die neuen Werke von Angela Schanelec, die in „Der traumhafte Weg“ laut Pressemeldung eine Geschichte über Machtlosigkeit und Glück erzählt, sowie auf „Mister Universo“ von Tizza Covi und Rainer Frimmel gespannt sein. Nachdem das italienisch-österreichische Regieduo vor einigen Jahren im Wettbewerb von Locarno mit „Der Glanz des Tages“ begeisterte, kehren sie nun zum Löwendompteur ihres Spielfilmdebüts „La pivellina“ zurück und begleiten diesen quer durch Italien auf der Suche nach einem ehemaligen Mister Universum.
Schweizer Film in Locarno
Die Schweiz ist im Wettbewerb neben dem neuen Film von Milagros Mumenthaler auch mit Michael Kochs Spielfilmdebüt „Marija“ vertreten. Dazu kommen im „Concorso Cineasti del presente“ Klaudia Reynickes „Il nido“, Michele Pennettas „Pescatori di corpi“ und Yuri Ancaranis „The Challenge“ sowie „Fuori concorso“ unter anderem die Weltpremieren von Nicolas Wadimoffs Dokumentarfilm „Jean Ziegler, L´optimisme de la volonté“ und Jacob Bergers „Un juif pour example“.
Einblick in das aktuelle eidgenössische Filmschaffen bietet zudem das „Panorama Suisse“, in dem zehn teilweise schon in den Schweizer Kinos gelaufene Produktionen, wie Micha Lewinskys „Nichts passiert“ oder Niklaus Hilbers „Amateur Teens“ oder Esen Isiks „Köpek“, aber auch noch nicht gestartete Filme wie Maya Kosas und Sergio da Costas „Rio Corgo“ gezeigt werden.
Ehrenpreise und Hommagen
Wie gewohnt werden in Locarno auch heuer wieder zahlreiche Ehrenpreise vergeben. So geht der Ehrenleopard an das chilenische Multitalent Alejandro Jodorowsky, in dessen Werk mit der Präsentation von Filmen wie des Klassikers „Montana Sacra“, aber auch seines jüngsten Films „Poesía sin fin“ Einblick geboten wird.
Der Excellence Award Moët & Chandon wird an den Schauspieler Bill Pullman, der Premio Raimondo Rezzonico an den Produzenten David Linde und der Vision Award Nescens an den Filmkomponisten Howard Shore verliehen. Natürlich werden auch anlässlich dieser Preisverleihungen Filme der Geehrten gezeigt.
Zu Ehren Pullmans kann man unter anderem nochmals David Lynchs „Lost Highway“ genießen, Einblick in Lindes Schaffen wird mit Ang Lees „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ und Alfonso Cuaróns „Y tu mama tambien“ geboten und Shore wird unter anderem mit Tim Burtons „Ed Wood“ und Jonathan Demmes „The Silence of the Lambs“ geehrt.
Dazu kommen Hommagen an Roger Corman, Jonas Mekas und Abbas Kiarostami.
Den „Pardo alla carriera“ erhält schliesslich Mario Adorf. Im Rahmen dieser Verleihung wird auch Gerd Oswalds „Am Tag, als der Regen kam“ gezeigt, in dem der Vollblutschauspieler den Anführer einer brutalen Berliner Gang spielt. Gleichzeitig ist dieser 1959 gedrehte Krimi aber auch Teil der heurigen Retrospektive.
Retrospektive: Das Kino der jungen BRD
Die Retrospektive widmet sich mit zahlreichen Filmen dem Kino der BRD zwischen 1949 und 1963 und will deren schlechtes Image revidieren. Die Heimat- und Kostümfilme sowie die harmlosen Komödien und Musikfilme, die man mit dieser Ära verbindet, spielen dabei kaum eine Rolle. Während Klassiker wie Wolfgang Staudtes „Rosen für den Staatsanwalt, Kurt Hoffmanns Wirtschaftswunderkomödie „Wir Wunderkinder“ oder Bernhard Wickis „Die Brücke“ überraschenderweise fehlen, sind neben unbekannteren Produktionen die aus dem Exil heimgekehrten Regisseure Fritz Lang, Robert Siodmak und Peter Lorre, aber auch der sich Anfang der 1960er Jahre mit Kurzfilmen anbahnende „Junge Deutsche Film“ stark vertreten.
Dokumentarfilme in der „Semaine de la critique“
Auf sieben außergewöhnliche Dokumentarfilme darf man sich schliesslich in der „Semaine de la critique“ freuen. So macht sich der Niederländer Alex Pitstra in „Bezness as usual» mit seiner Kamera auf die Suche nach seinem ihm unbekannten tunesischen Vater, während Heidi Specogna in „Cahier africain“ die Grausamkeiten des Bürgerkriegs in Zentralafrika dem Vergessen entreisst.
Die Mexikanerin Laura Herrero Garvín wiederum dokumentiert in „El Remolino“, wie ein Dorf im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas aufgrund verstärkter Abholzung zunehmend von Überschwemmungen bedroht ist, Katerina Suvorova blickt in „Sea Tomorrow“ dagegen auf die Austrocknung des Aral-Sees und deren Folgen. Pavel Cuzoioc rückt in „Secondo Me“ die Garderobieren der großen Opern ins Bild und Rafał Skalski begleitet in „Monk of the Sea“ einen jungen Thai, der zwei Wochen lang als buddhistischer Mönch lebt, während Anna Zamecka in „Communion“ sich dem Alltag eines zehnjährigen autistischen polnischen Jungen und seiner etwas älteren Schwester widmet.
(Walter Gasperi)
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