38. Festival Internacional del Nuevo Cine Latinamericano, La Habana. Von Geri Krebs
Nur vier Tage nach der Beisetzung Fidel Castros begann in Havanna das Filmfestival. Ein Bericht aus grosser geografischer Distanz über einen Anlass mit Abwesenden.
"Unser Kino wäre ein anderes ohne seine Spur, die er uns hinterlassen hat, ohne sein besonderes Interesse für den Film, für die Kultur, die Geschichte". Ivan Giroud, seit dem Tod von Festivalbegründer Alfredo Guevara im Jahr 2013 künstlerischer Leiter des Festivals, sprach in seiner Eröffnungsrede vom 4. Dezember in Havannas Karl Marx Theater natürlich auch über den verstorbenen Comandante en Jefe. Und nach Giroud waren es in den folgenden Tagen am Festival mit seinen übr 400 programmierten Filmen solche glühende ausländische Castro-Anhänger wie der argentinische Regisseur Tristan Bauer, dieses Jahr Präsident der internationalen Jury, oder Ehrengast Oliver Stone mit der Kuba-Premiere von "Snowden", die mit salbungsvollen Worten den Verstorbenen und sein Werk priesen.
Dass sein Schatten über dem Festival liegen würde, war schon einige Wochen vor dem Festivalbeginn evident. Mit der Bekanntgabe des Festivalprogramms Mitte November, noch vor dem Tod Fidel Castros am 25.11., wurde in kubanischen Cineastenkreisen vor allem ein nicht am Festival vertretener neuer kubanischer Film diskutiert: "Santa y Andrés" des jungen kubanischen Regisseurs Carlos Lechuga. Der zweite lange Spielfilm des 1983 in Havanna geborenen Lechuga erzählt die Geschichte des - fiktiven - dissidenten Schriftstellers Andrés, der Anfang der 1980er Jahre in der Verbannung in der tiefsten kubanischen Provinz lebt. Wegen eines in der nahegelegenen Provinzhauptstadt stattfindenden internationalen Kongresses steht er unter Hausarrest, und zu dessen Durchsetzung wird Santa, eine junge Angestellte einer landwirtschaftlichen Kooperative, abkommandiert. Im Verlauf von Santas Bewachungsaufgabe kommt es zu einer langsamen Annäherung zwischen dem homosexuellen Literaten und der desillusionierten Frau. Carlos Lechuga, dessen Erstling "Melaza" 2012 am Festival von Havanna ausgezeichnet wurde und der 2014 dort für das Drehbuch zu "Santa y Andrés" den (Förder-)Preis in der Kategorie "Unveröffentlichte Drehbücher" erhielt, widmet seinen Film explizit allen in den 1970er und 1980er Jahren verfehmten Intellektuellen, die in Kuba wegen abweichender politischer Ansichten oder auch wegen ihrer Homosexualität Repressalien erleiden mussten. Nach seiner Weltpremiere im vergangenen September am Filmfestival Toronto lief "Santa y Andrés" auch an den Festivals von San Sebastián und Zürich, in Spanien erhielt er zudem im Oktober eine Auszeichnung der spanischen Autorengesellschaft SGAE für sein Drehbuch.
Der Film "suggeriere eine politische Verfolgung, die es in Kuba so nie gegeben hat", verlautbarte wenige Tage nach der Bekanntgabe des Programms des diesjährigen Filmfestivals Havanna ein Funktionär des kubanischen Kulturministeriums in seinem Blog. Es war die erste - halboffizielle - Begründung für einen dreisten Zensurentscheid. Die offizielle Begründung folgte am 4. Dezember, am Tag der Beisetzung Fidel Castros, mittels einer Verlautbarung von Roberto Smith, dem Chef des kubanischen Filminstituts ICAIC: Der Enscheid, einen Film wie "Santa y Andrés" nicht am Festival zu zeigen, habe auch "mit dem Respekt vor den Ideen und dem Werk unseres geliebten Revolutionsführers Fidel Castro" zu tun und daher sei jetzt nicht der richtige Moment, einen derartigen Film zu zeigen.
Das kubanische Kino, das noch im vergangenen Jahr am Filmfestival Havanna mit neun neuen Spielfilmen aufgewartet und damit eine Rekordzahl neuer Produktionen präsentiert hatte, war dieses Jahr nun nur gerade mit vier neuen Langspielfilmen präsent. Vor allem zwei erregten grössere Aufmerksamkeit: "Ya no es antes" von Lester Hamlet und "Últimos días en La Habana" von Altmeister Fernando Pérez. Während ersteres ein intensives Kammerspiel um ein - von Isabel Santos und Luis Alberto García - verkörpertes altes Ehepaar ist und den Publikumspreis sowie den Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller abholte, wurde das Drama von Fernando Pérez um Emigration, Homosexualität und Armut mit dem Spezialpreis der Jury und dem Preis für das beste Sounddesign ausgezeichnet. Der 73 jährige Pérez war es denn auch, der an einem der ersten Festivaltage anlässlich der Präsentation der Filmzeitschrift "Cine Cubano" in einer Rede ganz offen den Zensurentscheid gegen "Santa y Andrés" kritisierte und sich damit einmal mehr als einer der unerschrockendsten Vertreter von Kubas älterer Cineastengeneration erwies. Ein anderer war der Regisseur, Schriftsteller und Drehbuchautor Eduardo del Llano. Der 54 Jährige, der dieses Jahr, wie Carlos Lechuga im Jahr 2014, für sein Drehbuch "The Real Thing" einen Preis in der Kategorie "Unveröffentlichte Drehbücher" erhielt, schrieb in einer öffentlichen Stellungnahme zum Zensurentscheid gegen "Santa y Andrés": "Solange Zensoren ungestraft ihrer Arbeit nachgehen können, wird es nie einen 'richtigen Moment' geben, um einen Film zu zeigen, der einigen unbequem erscheinen mag."
Neben kubanischen Filmen waren es auch in diesem Jahr beim Wettbewerb traditionellerweise Filme aus Mexiko, Argentinien und Brasilien, die Hauptpreise abholten. Als "Bester Spielfilm" wurde das aktionsreiche Emigrantendrama "Desierto" des mexikanischen Regisseurs Jonás Cuarón ausgezeichnet, während der Preis für das beste Erstlingswerk an den eher leisen Film "El invierno" des Argentiniers Emiliano Torres über einen Hirten in Patagonien ging, und die Schauspielerin Sonia Braga aus Brasilien den Schauspielerinnenpreis für ihre Hauptrolle in "Aquarius" ihres Landsmannes Kleber Mendonça Filho erhielt, einen Film, der demnächst auch in der Schweiz im Kino zu sehen sein wird.
(Geri Krebs)
PREISE | |
Bester Spielfilm |
Desierto, FR/MX 2016, 94' Regie: Jonás Cuarón |
Spezialpreis der Jury |
Últimos días en La Habana, CU 2016, 92' Regie: Fernando Pérez Valdés |
Besondere Erwähnung der Jury |
Jesús, DE/CL/CO/FR/GR 2016, 84' Regie: Fernando Guzzoni |
Beste Regie |
Víctor Gaviria, La mujer del animal |
Bester Schnitt |
Hervé Schneid, Neruda |
Beste Originalmusik |
Woodkid, Desierto |
Bester Ton |
Sheyla Pool, Últimos días en La Habana |
Bestes Drehbuch |
Andrés Duprat, El ciudadano ilustre |
Beste Kamera |
Inti Briones, Aquí no ha pasado nada |
Beste weibliche Darstellerin |
Sonia Braga, Aquarius |
Beste männliche Darsteller |
Luis Alberto García, Ya no es antes |
Beste künstlerische Leitung |
Estefanía Larraín, Neruda |
Bester Kurzfilm |
Madre, CO/SE 2016, 14' Regie: Simón Mesa Soto |
Besondere Erwähnung der Jury |
Las cosas simples, CL 2015, 24' Regie: Álvaro Anguita |
Erstlingsfilme | |
Bester Film |
El invierno, AR/FR, 2016, 93' Regie: Emiliano Torres |
Spezialpreis der Jury |
Rara, AR/CL 2016, 92' Regie: Pepa San Martín |
Bester artistischer Beitrag |
La última tierra, QR/CL/NL/PY 2015, 74' Regie: Pablo Lamar |
|