21. Internationale Kurzfilmtage Winterthur vom 7.-12. November 2017
Die 21. Internationalen Kurzfilmtage Winterthur warten mit einem spannenden – und, was Schweizer Produktionen betrifft: im Fiktionalen auffallend starken – Wettbewerbsprogrammen auf und überraschen mit einem erstmalig eingerichteten 360°VR-Kino. Das diesjährige Glanzstück aber dürfte das Sonderprogramm mit Filmen aus Südostasien sein.
Man sei ein wenig stolz, meinte Remo Longhi, der kaufmännische Leiter der Winterthurer Kurzfilmtage, an der Pressekonferenz. Da hätten vor etwas mehr als zwanzig Jahren ein paar Filmverrückte in Winterthur einen grossen Traum von einem eigenen Festival gehabt. Zehn Jahre habe man gebraucht, dieses aufzubauen. Zehn weitere Jahre für dessen Konsolidierung: um internationale Bekanntheit zu erlangen, die digitale Wende umzusetzen, das (digitale) Archiv aufzubauen. 2017 nun ist man in Winterthur im dritten Festival-Jahrzehnt angelangt. Perspektivisch will in den nächsten Jahren auf Bewährtem weiteraufbauen, das Profil weiter schärfen. Auch will man noch stärker zu einem schweizerischen Kompetenzzentrum für die kurze filmische Form heranwachsen – von einer international noch weiter verstärkten Ausstrahlung spricht man in Winterthur offiziell nicht, denkt sie sich bescheiden wohl aber dazu: Unter allen den Schweizern Filmfestivals dürften die Kurzfilmtage von Winterthur zu den international am meisten beachteten zählen.
Neue Spieltstätte und Virtual Reality
Was die Programmgestaltung der vom 7,-12. November stattfindenden, 21. Filmtage betrifft, bleibt im grossen Ganzen alles wie gehabt – mit einigen Neuigkeiten. So wird man etwa das Kino Cameo intensiver bespielen. Und mit dem Neuwiesenhof Theater hinter dem Bahnhof hat man eine altehrwürdige neue Spielstätte dazugewonnen. Selbstverständlich bemüht man sich in Winterthur, im Kleinen oft sich im Grossen anbahnenden, neue Tendenzen erfühlend, am Geist der Zeit dran zu bleiben, bzw. die neusten kino-technischen Entwicklungen nicht unbeachtet zu lassen. So bewegt sich dieses Jahr denn Richtung «Virtual Reality»; Venedig hat vor wenigen Wochen dem «Format der Stunde» eine ganze Insel gewidmet, in Winterthur gibt man sich vorerst mit einem im Theater Winterthur extra für 360°-VR-Projektionen eingerichteten Kino zufrieden: ein Raum, 30 Drehstühle, Kopfhörer, VR-Brillen. Damit das Publikum das neue Medium als kollektives Kinoerlebnis wahrnimmt, zeigt man die Programmblöcke in synchronisierten Vorführungen. «First Contact» zeigt Filme, die mit dem neuen Format spielen und bieten einen Einstieg für VR-Neulinge. «New Perspectives» fokussiert auf Werke, die dank der 360°-Perspektive Themen aus überraschendem neuen Blickwinkel angehen, «Strange Realities» präsentieren visuell und technisch herausragende VR-Projektionen, die ins Surreale führen: Momoko Setos «Planet Infenite», Mathieu Pradats «Proxima», Lily Baldwins «Through You»; Achtung: für die Programme des Virtual Reality Cinema ist ein Einzeleintritt erforderlich.
Der Internationale und der Schweizer Wettbewerb
Kernpunkt der Kurzfilmtage aber sind nach wie vor die zwei Wettbewerbe: Der Internationale Wettbewerb: 37 Filme in sieben Blöcken; in einer hochkomplexen Zeit wie der jetzigen, in der vieles ausser Kontrolle gerate, liege es nahe, «dass sich Filmschaffende mit der Menschlichkeit befassen» und mit ihren Werken «Denkanstösse geben und das soziale Bewusstsein stärken wollen», meinte der künstlerische Kurzfilmtagleiter John Canciani. So erzählt die Ukrainerin Svitlana Shymko in «The Fall of Lenin» humorvoll vom Untergang alter Symbole und dem Weiterleben der (alten) Geschichte. Emad Aleebrahim Dehkordi begleitet in «Lower Heaven» drei Tage lang zwei afghanische Brüder, die ohne Papiere über die Grenze gekommen sich in Teheran ein neues Leben aufzubauen versuchen. Und «Imbiss» von Christoph Eder und Jonas Eisenschmidt erzählt von einer griechischen Familie, die auf Lesbos einen Kiosk betreibt – und deren Kunden ausschliesslich neu eingetroffene Flüchtlinge aus den Krisengebieten des Nahen Ostens sind. Doch es laufen im Internationalen Wettbewerb nicht nur Sozialdramen und Dokumentafilme. Christos Massalas erzählt in «Copa-Loca» die launige Geschichte einer gewissen Paulina, die während der Off-Season im titelgebenden Ferienort auf jede nur erdenkliche Weise die Bedürfnisse der zurückgebliebenen Einheimischen zu stillen versucht. Und der Graphik-Artist Boris Labbé, der mit Filmen wie «Rhizome» zu den Grossen seines Metiers gehört, zeigt in «Orogenesis» nicht weniger als die Entstehung der Berge.
Es sind im Internationalen Wettbewerb, wie immer in Winterthur, auch Arbeiten aus Schweizer Hand anzutreffen: Marie de Maricourts «Je fais où tu me dis», Francesca Calisi und Mark Olexas «Ligne Noir», Alline Höchlis Trickfilm «Kuckuck», Sarah Arnolds mysteriöser «Parades» und Carlos Tapias düsterer «Satán», in dem Tiago täglich das Krokodil füttert, das seinen Bruder getötet hat. Beim Schweizer Filmschaffen, das sich im dokumentarisch gewohnt stark zeige, meinte John Canciani, habe man dieses Jahr ein auffällig viele gute fiktionale Arbeiten angetroffen: Die grössten Erwartungen liegen wohl auf «Facing Mecca» vom Zürches Jan-Eric Mack, der jüngst für seinen Abschlussfilm der ZHdK in der Kategorie «Narrative (International Film Schools)» den Studenten-Oscar holte.
Nebensektionen und Sonderprogramme
Doch man findet in Winterthur Schweizerisches nicht nur in den Wettbewerben und die eigentlichen Leckerbissen finden sich in den Sonderprogrammen und Nebensektionen. Neu geschaffen hat man 2017 das Programm «Züri Shorts», welches die Aufmerksamkeit auf sechs Arbeiten lenkt, die von der «Vielfalt des lokalen Kurzfilmschaffens» zeugen: Cosima Frei, Michaela Müller, Matthias Sahli, Simon Münger/Louise Huesler, Felix Hergert, Yasmin Joerg heissen die Filmschaffenden, deren Werke in die Kränze kamen. Vorausschauend – nämlich auf die sich 2018 zum 50. Mal jährenden 1968er Unruhen – nimmt sich das Programm «Fredi M. Murer und 68er» aus; gezeigt werden, in Anwesenheit des Regisseurs: «Chicorée»; «Sad-is-Fiction», «2069 – oder dort, wo sich Futurologen und Archäologen gute Nacht sagen».
Bleibt zu erwähnen das diesjährige Sonderprogramm, der «Grosse Fokus» wie es in Winterthur jeweils heisst. Es habe sich, in Zeiten, in denen Regisseure wie Brillante Mendoza und Apichatpong Weerasethakul ihre Werke an internationalen Festivals wie Locarno, Berlin, Cannes zeigen und dafür Preise holen, sozusagen natürlich ergeben, wie Canciani meinte, sich in Winterthur dem kurzen Kinoschaffen Südostasiens zu widmen. Das Programm «Grosser Fokus: Tropical Views – Das Kino Südostasiens» umfasst neun Themenblöcke mit selbstredenden Titeln, wie „Family Stories“ „Collectiv Memory“, „Fuck the World!“ „Body Desires“. Zu den eindrücklichsten Werken gehören das herrlich schwarz-magische Eifersuchtsdrama „Hulahoop Soundings“ von Edwin aus Indonesien, des Philippinen Jaime Habac Jr. schwarze Komödie «Maria», in dem man, derweil die 50-jährige Mutter in 22. Kind gebiert, sich masslos über die Schwangerschaft der 14-jährig mittleren Tochter aufregt. Mein persönlicher Favorit aber ist «The Living Need Light, the Dead Need Music» von The Propeller Group: ein karnevalsk-fröhlich anmutendes Portpourri um nicht nur religiöse, sondern auch schamanische Sterbe-Rituale aus Vietnam.
(Irene Genhart)
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