Halt auf freier Strecke

DE 2011, 110 Min., D, Regie: Andreas Dresen, mit Steffi Kühnert, Milan Peschel, Talisa Lilli Lemke

Halt auf freier Strecke

DVD - Release: 30.8.2012

Rezension von Andrea Lüthi

Andreas Dresen („Wolke 9“, „Sommer vorm Balkon“) zeigt in seinen Filmen oftmals das nackte Leben, ohne vor unangenehmen Themen zurückzuschrecken. „Halt auf freier Strecke“ handelt vom Sterben und einer Familie, die sich Knall auf Fall damit auseinandersetzen muss – ergreifend und hervorragend gespielt.

Als Zuschauer ist man so wenig auf die Diagnose vorbereitet wie das Paar, das im Krankenhaus wartet. Ohne Eröffnungscredits, ohne Vorgeschichte wird man hineinkatapultiert in diesen Krankenhauskorridor, durch den der Arzt das Paar ins Sprechzimmer führt. In der nachfolgenden Szene, die in ihrer Stille erschüttert, erfährt man gleichzeitig mit den beiden, dass der Mann an einem bösartigen Hirntumor leidet. Ihm bleiben nur wenige Monate.

Eine tödliche Krankheit, die einem Menschen noch kurze Lebenszeit lässt, ist ein beliebtes filmisches Thema – in „The 92 Minutes of Mr. Baum“ oder „Kirschblüten“ ebenso wie in „Biutiful“ und „Emmas Glück“. Andreas Dresen aber interessiert weniger die Frage, was der Kranke alles tun möchte, ehe er stirbt. Er legt den Schwerpunkt auf das Sterben und die zwischenmenschlichen Beziehungen: Wie geht man mit der Tatsache um, dass ein Familienmitglied sterben wird und dass sich der Kranke auch psychisch verändert?

Das Leiden der anderen
Wie das Leben der Familie – die gerade in ein Reihenhaus gezogen ist – vor der Diagnose aussah, lässt sich nur erahnen. Jetzt ist es vom Tumor bestimmt. Der kranke Frank lässt sich vom iPhone spiegeln und spricht dabei über den Tumor. Dann wieder sieht er diesen personifiziert in der Harald-Schmidt-Show auftreten. Franks und Simones achtjähriger Sohn und die 14-jährige Tochter schwanken zwischen Ratlosigkeit und Mitleid. Doch sind sie auch mal übellaunig, wenn die Krankheit ihnen den Familienausflug vermasselt. Simone schliesslich versucht Normalität herzustellen; sie pendelt zwischen Arbeit, Haushalt und Krankenbetreuung. Geduldig wechselt sie die Adventskalender der Kinder aus, die Frank in seiner Verwirrung regelmässig leer isst. Er verändert sich zusehends, findet das Klo nicht mehr oder beschimpft Simone. Wenn sie an ihre Grenzen stösst, ist sie froh um die Palliativ-Ärztin (wie der Arzt im Krankenhaus gespielt von einer realen Ärztin). Sie strahlt wohltuende Ruhe aus und nimmt dem Sterben den Schrecken. Abgesehen von Simones Mutter, die mit Frank herumalbert und ihm eine Punkfrisur schneidet, zeichnet sich in Franks Umfeld zunehmende Hilflosigkeit ab. Franks Vater versucht Haltung zu bewahren, Franks Mutter bringt ihrem Sohn eine Selbstheil-CD, und Franks Freund möchte gern helfen und doch ist ihm anzusehen, dass er lieber fliehen würde.

Betonung des Zwischenmenschlichen
Passend angesiedelt in einer Herbst-Winter-Landschaft zeigt der Film das Auf und Ab: vom ohnmächtigen Zorn auf den Tod über Resignation, heftige Schmerzanfälle und Verzweiflung bis hin zur Ruhe – beim Sterbenden und in dessen Umfeld. Dresen beobachtet, ohne das Verhalten der Figuren zu werten. Leiser Spott ist nur dort vorhanden, wo geschwätzige Therapeuten im Tumor eine Chance sehen wollen.

Die Kamera bleibt sehr nahe an den Figuren, und die vielen Nah- und Grossaufnahmen vermitteln Intimität und schaffen zusätzliche Intensität. Um die Beziehung zwischen den Figuren zu betonen, zeigt der Regisseur diese meist nicht einzeln, sondern gemeinsam. Frank wird dabei oftmals im Profil gefilmt; das wirkt wie eine zunehmende Abwendung von Alltag und Leben. Es gibt aber auch Bilder für die Verletzlichkeit des Menschen, etwa bei der Bestrahlung, wenn sich Frank klein und hilflos inmitten riesiger, bedrohlich aussehender Apparate befindet oder wenn ihn die Kamera aus der Vogelperspektive aufnimmt, wie er – zum letzten Mal – Laub zusammenrecht.

Dresen spart nichts aus, zeigt beharrlich Leiden und Verzweiflung und findet dennoch eine unaufdringliche und zugleich sehr persönliche Tonart, die von den Schauspielern mitgetragen wird. „Halt auf freier Strecke“ ist ein zutiefst berührender Film, der nachwirkt, aber auch Mut macht.
(Andrea Lüthi)

 

Kritiken

National International
- Pascal Blum für zueritipp.ch - Martina Knoben für sueddeutsche.de
- Patrick Heidmann für cineman.ch - Evelyn Runge für zeit.de
- Urs Arnold für outnow.ch - Bert Rebhandl für faz.net
- Michael Sennhauser im Interview mit Andreas Dresen für drs2.ch - Barbara Schweizerhof für freitag.de
- Brigitta Rotach für medientipp.ch  
   
Offizielle Website Verleiher
halt-auf-freier-strecke.pandorafilm.de Filmcoopi

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